Mein Urgroßvater Wilhelm Dallmann (1902–1993) wuchs als Tagelöhnerkind in ärmlichen Verhältnissen im heutigen Niedersachsen auf. Ich weiß wenig über ihn und das, was ich kenne, sind die mündlich tradierten Geschichten meiner Familie. Als junger Mann verdingte er sich nach dem Ersten Weltkrieg mit seinem Bruder in den nahegelegenen Niederlanden als Torfstecher. Eine der aufregenden Episoden seines Lebens war die Arbeit im Ruhrgebiet, wo sein Bruder Bernhard Kontakt zu ‚den Kommunisten‘ hatte. Als 25-Jähriger heiratete er Annie Huster (1904–1984), die seit dem 13. Lebensjahr als Milchmagd gearbeitet hatte. Gemeinsam wurden sie Heuerleute – so wurden die Tagelöhner mit kleiner Hofstelle in dieser Region genannt.
1932 verließen die unverheirateten Dallmann-Geschwister die Heimat in Richtung Wernigerode, weil dort Land verteilt wurde. Statt ein Leben als Knechte und Mägde mit nur geringen Aussichten auf soziale Aufstiegsmöglichkeiten zu fristen, konnten sie auf kleine Hofstellen in der neuen Heimat hoffen. Mit ihren Habseligkeiten machten sie sich auf die Suche nach einem besseren Leben. Trotz der Zwangskollektivierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die für den hier beschriebenen Personenkreis sicher besonders bitter war, hatten sie doch eigene Häuser und keiner von ihnen war mehr als Magd oder Knecht tätig, ihre Kinder machten Ausbildungen abseits der Landwirtschaft.
Meine Urgroßeltern zogen Anfang der 1950er Jahre auf den Hof ihres Schwiegersohns Konrad Förster, der aus Schlesien nach Niedersachsen gekommen war und ihre älteste Tochter Wilma geheiratete hatte. Bis ans Ende ihres Lebens lebten sie nicht in einem eigenen Hausstand.
Wenn ich heute jemanden über „Wirtschaftsflüchtlinge“ schimpfen höre, denke ich an meine Urgroßonkeln und -tanten. Sie waren nicht gut ausgebildete, sogenannte einfache Leute. Aber sie hatten die Hoffnung auf ein anderes, wirtschaftlich besser abgesichertes Leben – für sich und ihre Nachkommen. An einem anderen Ort. Wer wollte, wer dürfte ihnen dies absprechen?