Gerda Lerners Flucht und Ankunft

Gerda Lerner (* 30. April 1920 in Wien; † 2. Januar 2013 in Madison, Wisconsin; geb. Kronstein) – die spätere Pionierin der Frauengeschichtsschreibung – wurde im April 1938 achtzehn Jahre alt. Sie verbrachte ihren Geburtstag im Gestapo-Gefängnis am Wiener Morzinplatz und versuchte durchzusetzen, ihre Maturaprüfung ablegen zu dürfen. Ihr Vater, der Apotheker Robert Kronstein, war – durch einen Geschäftspartner gewarnt – nach Liechtenstein geflohen, noch bevor das Auswanderungsgesetz für Jüdinnen und Juden beschlossen worden war und bevor Züge kontrolliert wurden. Er wollte von dort aus seine Familie nachholen, doch schon eine Woche nach seiner vorgetäuschten Geschäftsreise durchsuchte die SA die Wohnung der Familie Kronstein und verhaftete Gerdas Mutter (die Malerin Ilona Kronstein) und sie selbst, um seine Rückkehr zu erpressen. Nach qualvollen Wochen wurden die beiden Frauen schließlich wieder freigelassen, obwohl Robert Kronstein nicht zurückgekommen war – gerade noch rechtzeitig für Gerda, um ihre Matura noch ablegen zu können:

„[…] trotz allem absolvierte ich die Matura magna cum laude und bekam den Händedruck aller Mitglieder der Super-Nazi-Kommission, als sie mir zu meiner außergewöhnlichen Leistung gratulierten. Das gab der rauen Wirklichkeit eine komische Note. Aber was davor passiert war, war tödlicher Ernst, und es hatte mich fürs Leben bereits gezeichnet. Und was danach kommen sollte, war noch viel schlimmer. Meine viel versprechende akademische Karriere, dieses wunderbare utopische Ziel, auf das all meine Energie und meine Hoffnungen während jener Wochen im Gefängnis gerichtet waren, verflüchtigte sich in dem Sturm, der über Europa und mein Leben hinwegfegte“ (S. 165).

Trotz eines Deportationsbefehls folgten nun absurde bürokratische Schikanen, welche die Ausreise der Kronsteins wieder und wieder verzögerten:

„Die Nazis hatten einige Verwaltungsverordnungen erlassen, die es sogar den Juden, die das Glück hatten, Einreisevias für andere Länder zu haben, außerordentlich erschwerten, die notwendige Ausreiseerlaubnis zu erhalten. […] Jeden Tag stand ich stundenlang Schlange bei der einen oder anderen Behörde, um eines der Dokumente zu beantragen, und überall wurde ich hingehalten […]. Das System war so konstruiert, dass nach Wochen aufwändiger Bemühungen die Dokumente ihre Gültigkeit verloren und man immer wieder von vorne beginnen musste. Dies kam einer teuflischen Art von Folter gleich und es hatte die beabsichtige Wirkung, dass wir uns aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen fühlten“ (S. 169 ff.).

Während es für Jüdinnen und Juden zunehmend gefährlich wurde, das Haus zu verlassen, gelang es Gerda Kronstein schließlich doch – weitgehend allein, da ihre Mutter in eine Depression verfiel – ihre Besitztümer zu verkaufen und mit Hilfe eines Anwalts die notwendigen Dokumente zusammenzutragen. Sie hatte zudem Glück, dass einem langjährigen Freund die Flucht in die USA bereits gelungen war. Gerda sollte nachkommen und ihn dort heiraten. Mit dem Umzug zu den zukünftigen Schwiegereltern in Wien, wo sie sich als „geduldeter Gast“ fühlte, begann für sie das „Dasein als Flüchtling“:

„Es ist eine erschütternde Erfahrung, sich so hilflos und bar jeglicher Bürgerrechte und ohne anerkannten Status zu fühlen. Es geht nicht nur darum, plötzlich Mensch zweiter Klasse zu sein; es ist vielmehr so, dass man als Person nicht mehr existiert. Ein Mensch ohne Bürgerrechte ist eine Person ohne Identität. Man wagt nicht, an die Vergangenheit zu denken, weil dadurch die Gegenwart unerträglich schmerzhaft wird. Die Zukunft liegt im Dunkeln, das weite Meer unter Nebel, mit nur wenigen erkennbaren Markierungen […]. Ein Flüchtling lebt von einem Tag zum anderen, von einer Stunde zur nächsten, und wirft blind Rettungsleinen durch den Nebel: Wunschträume, Fantasien, Schaumgeschichten, Pläne, die unendlich weit in der Zukunft liegen. Alles umsonst, das Einzige, was man lernen muss, ist die Fähigkeit, sich anzupassen. Reise immer nur mit leichtem Gepäck, das ist für Flüchtlinge eine Grundregel. Wir hatten diese Weisheit noch nicht gelernt“ (S. 176).

Im September 1938 konnte Gerda Kronstein mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Nora die Reise nach Liechtenstein zum Vater antreten und Österreich endlich verlassen. Den Tag der Abreise hat sie nicht mehr in Erinnerung, aber das „versteckte Grauen“ blieb in einem lebenslang wiederkehrenden Alptraum konserviert:

„Er handelt immer von einer Situation, in der ich mich fertig machen muss zur Abreise und zu viel Gepäck da ist, oder Leute da sind, die mich am Wegfahren hindern wollen, oder es noch zu viel Unerledigtes gibt“ (S. 178).

Im April 1939 kam die noch nicht ganz 19-Jährige schließlich einsam und „in sorgenvollen Erwartung“ in den USA an. Beinahe wäre sie zurückgewiesen worden, da das „Mann-Gesetz“, das Prostitution verhindern sollte, die Einreise alleinstehender weiblicher Minderjähriger in die USA verbot. Ihr Verlobter konnte mit Freunden die Situation klären. Trotz Entfremdung und anderer Kränkungen heirateten die beiden rasch:

„Und damit verdanke ich der Einwanderungsbehörde der USA eine unglückliche Ehe. Eineinhalb Jahre Kampf und Mühsal und schließlich die Scheidung.[…] Die nächsten eineinhalb Jahre waren eine Phase des Übergangs und des unablässigen Lernens. Vor allem musste ich lernen, arm zu sein. Die Armut, die ich nun erfuhr, war anders als jene in Europa in den Monaten nach unserer Emigration, weil wir damals genug zu essen und eine vernünftige Wohnung gehabt hatten, und wir uns, wenn wir wirklich dringend etwas brauchten, an Verwandte wenden konnten […]. In New York war es eine Armut ohne jedes Sicherheitsnetz. [Wir] wussten [nicht] über die Hilfsangebote Bescheid, die New York für seine Armen bereithielt, wie etwa Hilfe bei der Arbeitssuche, Beratungen, Umschulung oder zeitweilige finanzielle Unterstützungsleistungen. Wir waren davon überzeugt, und zwar mit Recht, dass wir als Einwanderer verpflichtet waren, für uns selbst zu sorgen, und dass jeglicher Kontakt zu einem Amt unseren Status gefährden könnte“ (S. 218 f.).

Ihr teurer, „unverwüstlicher“ Wiener Tweedmantel machte Gerda Kronstein zudem als „unamerikanische Außenseiterin“ kenntlich: „In Amerika glaubt einem niemand, dass man arm ist, solange man solche Kleider trägt“ (S. 176 f.). Nicht nur der Mantel, sondern auch fehlende Qualifikationen, mangelnde Kontakte, die Depression und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie „offensichtlich eine Neueinwanderin“ war, erschwerten die Arbeitssuche:

„Es bedurfte sechs Monate der Arbeitslosigkeit, um mich Lügen zu lehren. Ein Freund half mir, eine falsche Lebensgeschichte zu erfinden und mich auf die Fragen vorzubereiten, auf die ich Acht geben sollte. […] Sag nie, dass du ein Flüchtling bist […] Frag nichts, erzähl nichts freiwillig.“ (S. 220).

Gerda Kronstein gelang es schließlich, in den USA Fuß zu fassen. Sie gründete mit dem Cutter und Produzenten Carl Lerner eine Familie, machte eine Ausbildung als Röntgenassistentin und trat der Kommunistischen Partei bei, wodurch sie in den 1940ern erneut Angst und Verfolgung ausgesetzt war. Mit 38 Jahren begann Lerner ein Geschichtsstudium an der New School for Social Research und promovierte mit einem frauengeschichtlichen Thema:

 „[…] die Geschichte als Gegenstand nahm mich gefangen und ließ mich nicht mehr los, und als ich erkannte, dass ich nichts lieber tun wollte als den Frauen eine Geschichte zu erschaffen und diese öffentlich zu machen, verwendete ich bald alle meine Energie, meine Leidenschaft und mein Talent darauf, eine gute Historikerin zu werden“ (S. 501).

Die Seitenzahlen beziehen sich auf Gerda Lerner, Feuerkraut. Eine politische Autobiographie, Czernin Verlag, Wien 2014 (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andrea Holzmann-Jenkins und Gerda Lerner).
Weiter Informationen (zum Nachlass etc.) unter: https://www.gerdalerner.com/

Zeithistorikerin und Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin. Forschungsbereiche: Biographie (Online); Wien 1900 (Karl Kraus, Berthold Viertel); Exil in Hollywood (Salka Viertel); Rewriting History Projects (Geschlechtergeschichte, Gerda Lerner).

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