Als „Flüchtlingskind“ im Nachkriegsdeutschland. Die Flucht meiner Mutter und ihr Leben als Geflüchtete

Meine Mutter wurde 1937 auf einem Vorwerk bei Kalisz (heute Kalisz Pomorski) in der Pommerschen Seenplatte geboren. Sie war die dritte Tochter ihrer Eltern. Zwei Monate nach ihrer Geburt starb ihr Vater an einer Lungenkrankheit. Zurück blieb die junge Witwe mit ihren drei Töchtern. Mehr schlecht als recht brachte sie sich selbst und ihre Kinder mit Näharbeiten und Wäscherei durch. Trotzdem war die kleine Familie zufrieden und dankbar und genoss die pommersche Natur.

Zwei Jahre später brach der Zweite Weltkrieg aus. Bis Ende Januar 1945 blieb die Familie in der Nähe von Kalisz. Dann wurden die Meldungen über die heranrückende russische Armee immer bedrohlicher. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch der Mutter mit ihren drei Töchtern, machte sich die Familie auf den Weg gen Berlin. Alle Straßen waren voller Flüchtlinge. Sobald man eine der Hauptfluchtstraßen erreicht hatte, kam man nur noch meterweise, teilweise schrittweise voran. Hinter ihnen dröhnten die Geschütze und immer wieder tauchten auch feindliche Flugzeuge auf, die ihre Bomben auf die Straßen und damit auch die Flüchtenden abwarfen und ein blutiges Chaos anrichteten. Mitten drin meine Mutter, achtjährig, mit ihren Großeltern, ihrer Mutter und ihren beiden älteren Schwestern.

Es war unfassbar kalt und da sie sich, eingekeilt im Flüchtlingsstrom, kaum bewegen konnten, kühlten sie schnell aus. Zuerst waren es nur einzelne, dann immer mehr, die ermattet und geschwächt zu Boden sanken oder neben der Straße zusammensackten und dort erfroren. Alte, Kinder, Kranke.

Die Mutter meiner Mutter redete ununterbrochen mit ihren Töchtern, versuchte sie irgendwie zu kleinen Bewegungen zu animieren, damit sie ja nicht zu sehr auskühlten oder einschliefen. Am Ende des ersten Tages hatten sie nur einen winzigen Teil des Weges zurückgelegt. In der Nacht wurde es noch kälter. Morgens wachten viele der Flüchtenden gar nicht mehr auf.

Umkehren war keine Option mehr. Es gab nur noch vorwärts. Nach wenigen Tagen waren die Strapazen für die Großmutter der Familie zu viel. Sie wurde krank. Irgendwie fanden sie zumindest einen kleinen Platz in einem Unterstand etwas abseits der Straße. Die Mutter meiner Mutter kümmerte sich um ihre Schwiegermutter und tat was sie konnte, aber schnell war klar, dass es die Ruhr war. Nach zwei Tagen starb sie. Der Großvater war außer sich vor Trauer und Wut und machte der Schwiegertochter bittere Vorwürfe. Sie habe seine Frau nicht gut genug gepflegt. Seine drei Enkelinnen waren starr vor Schrecken.

Weiter ging die Flucht. Nach zwei weiteren Tagen erkrankte die Mutter meiner Mutter ebenfalls an der Ruhr. Sie hatte sich bei der Pflege ihrer Schwiegermutter und unter den miserablen hygienischen Umständen selbst angesteckt. Binnen 24 Stunden war auch sie tot.

Da standen die drei nun Vollwaisen, eine Halbwüchsige und zwei Kinder, und mussten zusehen wo sie blieben. Der Großvater hatte kein Wort des Trostes für sie übrig. Alles was er sagte, war »Wir müssen weiter! Lauft!« Die drei Mädchen fassten sich an den Händen bzw. griffen sich einen Kleiderzipfel und ließen sich wie betäubt von der Masse weiterschieben. Schritt für Schritt. Irgendwann auf dem Weg, war plötzlich auch der Großvater nicht mehr da. Er tauchte nie wieder auf und keiner weiß, ob er ebenfalls erkrankt, an Schwäche gestorben oder erfroren ist.

Im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein waren die drei Schwestern nun unterwegs. Die Älteste übernahm die Verantwortung für die beiden Jüngeren, und schaffte es irgendwie alle zusammenzuhalten, hier und da etwas zu Essen zu erbetteln, und wenigstens grob in Richtung Berlin weiterzufliehen.

Im Grunde war es ein Wunder, dass meine Mutter es gemeinsam mit ihren beiden Schwestern tatsächlich schaffte, sich in den Wirren der Flucht, unter Beschuss durch feindliche Flugzeuge, ohne eigenen Proviant (sie erbettelten sich etwas zu Essen) bis nach Berlin durchzuschlagen. Aber schließlich standen die drei halbtot und am Ende ihrer Kräfte vor der Tür ihrer überraschten Tante.

Die musste zusehen, wie sie sich und ihren kleinen Sohn durchbrachte. Ihr Mann war als Soldat irgendwo in Frankreich unterwegs, vielleicht aber auch längst dort gefallen. Was wusste sie schon. Und nun standen ihre drei Nichten vor der Tür, eröffneten ihr, dass ihre Schwester tot war und tja, was nun?

Die Tante sagte den beiden älteren Schwestern, sie könne nicht alle drei bei sich aufnehmen. Sie sagte ihnen, sie sollten zusehen, dass sie irgendwo unterkamen und sich schnell irgendwie ihr eigenes Geld oder wenigstens Kost und Logis verdienten. Meine achtjährige Mutter durfte (»vorerst«, wie die Tante sagte) bei ihr und ihrem Sohn bleiben. Letztlich ist meine Mutter dann bei ihrer Tante geblieben und wurde zusammen mit ihrem Cousin großgezogen.

Aber damit hatte das Elend für sie kein Ende. Sie war zwar den Russen entkommen, hatte sich ins »sichere« Berlin gerettet, war mit einem Teil der Familie wieder vereint. Alles gut! Aber natürlich war es so nicht. Sie war nun das „zusätzliche Maul“, das mit durchgefüttert werden musste. Die eh schon kargen Vorräte mussten noch einmal mehr geteilt werden. Für alle blieb weniger. Freizeit, wie wir Spätgeborenen sie kennen, gab es für sie nicht mehr. Sie musste mit ran im Haushalt, in der Beschaffung von Lebensmitteln.

In der Schule war und blieb sie mit dem vorgeblichen Makel »Flüchtlingsgöre« oder »Flüchtlingskind« behaftet. Ihr wurde nichts zugetraut, sie wurde nicht gefördert. Natürlich es gab viele mehr wie sie. Aber schon damals gab es in den Köpfen der Menschen diese feine Trennlinie zwischen »wir Alteingesessenen« und »ihr Flüchtlinge«. Sie wurde überall nur geduldet, nicht geliebt. Sie musste beweisen, dass sie es wert war, durchgefüttert zu werden. Sie musste beweisen, dass sie mehr im Kopf hatte, als man so einer Flüchtlingsgöre zutraute. Klagen oder gar Ansprüche stellen und seien sie noch so klein, durfte sie schon gar nicht. Es wurde erwartet, dass sie sich klaglos in alles fügte, dankbar und demütig dafür dass man ihr überhaupt erlaubte zu sein.

Ja, man ließ sie nicht verhungern. Man gab ihr Kleidung, dass sie nicht nackt gehen musste. Aber es gab kaum mal mehr als das Allernötigste für sie. Da war keine Mutter, kein Vater mehr, die versuchten ihr das Bestmögliche zu geben. Sie trug Kleidung, bis sie ihr quasi in Fetzen vom Körper fielen und wurde deswegen gehänselt. Niemand hörte sich an, was das traumatisierte Kind zu erzählen gehabt hätte. Mit ihren pubertären Problemen blieb sie sich selbst überlassen. Was sie bekam waren Tadel, nicht Lob. Die Kontakte zu ihren beiden älteren Schwestern waren selten, die mussten selber zusehen, wie sie durchkamen.

Später gab es einen Jungen in den sie sich verliebte. Er war ziemlich beliebt bei den Mädchen und umschwärmt. Als sich herausstellte, dass er ernsthaft Interesse an diesem Flüchtlingsmädchen hatte, wurden die anderen Mädchen gänzlich feindselig. Sie gönnten gerade dem Flüchtlingsmädchen den Schwarm aller Mädchen nicht.

Seine Mutter war entsetzt, als er sie zum ersten Mal mit nach Hause brachte. Ein Flüchtlingsmädchen war nicht gut genug für ihren Sohn. Der konnte doch jede haben, die er wollte! Warum ausgerechnet dieses Flüchtlingsmädchen? Sie tat alles was nur möglich war, ihn davon abzubringen sich weiter mit dem Flüchtlingsmädchen abzugeben. Er setzt sich am Ende durch. Auszubaden hatte es die neue Schwiegertochter, das ewige Flüchtlingsmädchen. Die Schwiegermutter änderte ihre Ansicht nie, so sehr das ehemalige Flüchtlingsmädchen auch versuchte sie von ihrem Wert zu überzeugen. Nichts war oder konnte je gut genug sein.

Und dann spielte das Leben dem Flüchtlingsmädchen noch einmal unfreundlich mit. Es stellte sich heraus, dass sie keine eigenen Kinder bekommen konnte. Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der Schwiegermutter. War ja klar, wer ein Flüchtlingsmädel nimmt, muss sich nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass es »beschädigte Ware« ist.

Was all das mit meiner Mutter anstellte, kann sich jeder selber denken. Innerlich blieb sie bis zu ihrem Tode immer das Flüchtlingskind. Das Flüchtlingskind, das seine Traumata, seine Verluste, seine Verletzungen nicht überwinden konnte – auch weil sie nicht die Unterstützung bekam, die sie gebraucht hätte – eben weil sie ja »nur ein Flüchtling« war.

Das Schicksal meiner Mutter ist nur eins unter Millionen. Viele haben Ähnliches und noch Schlimmeres erlitten. Manche sind daran zerbrochen, andere waren aufgrund glücklicher Fügungen oder anderer hilfreicher Menschen in der Lage das Erlittene zu überwinden und zu einem wirklich zufriedenen und glücklichen Leben zu finden. Es ist im Grunde nichts Besonderes am Schicksal meiner Mutter.

Aber es war ihr Schicksal, dessen Zeuge ich später wurde, dass meinen Blick auf Krieg und Flüchtlinge geprägt hat. Schon als Kind von sieben Jahren war ich fassungslos darüber, dass sich kaum ein Mensch fand, der diesem Flüchtlingskind (meiner Mutter) mit Freundlichkeit und Hilfe zur Seite zu stehen bereit war. Ich konnte nicht fassen, wie man einen Menschen so allein und ohne Hilfe lassen konnte.

Heute sind wieder Menschen auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung, Verfolgung, zerstörten Lebensbedingungen, wirtschaftlicher Not und was sonst noch Menschen dazu bringen kann, alles aufzugeben, um ein besseres Leben zu gewinnen oder schlicht nur das nackte Leben zu retten.

Wir leben wahrhaft auf einer Insel der Seligen. Vor unseren Toren spielen sich überall Tragödien und Dramen ab. Und ich kann nicht fassen, wie Menschen hier die Augen davor verschließen können. Oder noch schlimmer: hinschauen und sagen, das geht mich nichts an. Ihr bleibt mal schön draußen aus unserem Land. Ich kann nicht fassen, dass wir in all unserem Reichtum hier nicht mal einen Bruchteil davon abgeben wollen.

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