Abschied von der Schwester „Dita“. Ruth Maier über die Abfahrt eines Kindertransport

Die jüdisch-österreichische Schriftstellerin Ruth Maier (1920–1942) wuchs gemeinsam mit ihrer Schwester Judith in Wien auf. Im Dezember 1938 verlies die 16-jährige Judith mit einem Kindertransport Wien in Richtung London. 10.000 Kinder wurden über die Kindertransporte in Großbritannien in Sicherheit gebracht. Insgesamt flohen knapp 20.000 Kinder mit diesen Transporten in den Jahren 1938/39 in ein europäisches Land, in die USA, nach Kanada, Australien oder nach Palästina, [1].

Ruth Maier beschrieb in ihrem Tagebuch den Abschied von ihrer Schwester am 11. Dezember 1938[2]:

„Dita ist weg. Jetzt fährt sie im Zug, auch jetzt, in diesem Augenblick. Sie lacht, sie packt das Essen aus, oder vielleicht hat sie Heimweh.“

Der Abschied von der Schwester ist traumatisch: „Eine leere Stelle ist jetzt in unserem Heim“, doch die 18-jährige Maier verbietet sich „Sentimentalitäten, Ruth!“. Auf dem Bahnhof haben sich die vier- bis 17-jährigen Kinder mit ihren Eltern eingefunden und müssen Abschied nehmen, auf den Bahnsteig dürfen sie ihre Kinder nicht begleiten:

„Nur geweint haben sie. Nur Tränen, nichts als Tränen. In einem kleinen Häuferl ist Dita mit anderen dort gestanden, im Dunkel. Nur ihren weißblauen Schal hab ich gesehen. Wie wir vorbeigegangen sind an diesem Häuflein jüd. Flüchtlinge, da hat sie auf einmal ‚Mama‘ gerufen. Und hat gewinkt. An uns sind sie vorbei. Knapp! Noch einen letzten Kuss haben sie sich geben wollen. Dita und Mama. Ganz nah waren ihr Lippen, da hat der Ordner sie auseinandergerissen.“

Die Familie hoffte auf eine bessere Zukunft, denn sie allen besaßen bereits sog. Affidavits (Bürgschaftserklärungen für Einwanderer) und wollten nachkommen bzw. gemeinsam in die USA weiterreisen. Doch zuerst musste sie ihre Tochter und Schwester ziehen lassen:

„Es war kalt und naß. Dita ist vorbeimarschiert. Der blauweiße Schal hat geleuchtet. Tapfer. Und die Jugend, die wird kämpfen.

Ruth Maiers Mutter Irma konnte, wie auch ihre Großmutter zu Judith nach England auswandern. Der Vater Ludwig war bereits 1933 verstorben. Ruth sollte in Norwegen das Abitur ablegen und dann nach England kommen, ihr Visum ließ sie, in Norwegen angekommen, allerdings aus nicht ganz geklärten Gründen verfallen. Nach der Besetzung Norwegens 1940 konnte Maier das Land trotz mehrerer Versuche nicht mehr verlassen, sie wurde bei einer Razzia 1942 verhaftet und unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet.[3]

Ihr Freundin und Schriftstellerin Gunvor Hofmo (1921–1995) bewahrte Maiers Tagebücher der Jahre 1930 bis 1942 bis zu ihrem Tod auf, 2007 wurden sie auf norwegisch und 2008 auf deutsch publiziert.[4]

[1] Zu den Kindertransporten s. knapp: https://kindertransporte-nrw.eu/kindertransporte_fluchtpunkt.html, Zugriff: 15. August 2015. Auf diese Seite finden sich auch Biographien der sogenannten child survivors: https://kindertransporte-nrw.eu/lebensgeschichten.html.
[2] Dok.202 Ruth Maier aus Wien beschreibt am 11. Dezember 1938 den Abschied von ihrer Schwester, die mit einem Kindertransport nach Großbritannien fährt, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 2: Deutsches Reich, 1938 – August 1939, München 2009, S. 561 f. Alle Zitate ebd. Der Text ist auch abgedruckt in Ruth Maier: „Das Leben könnte gut sein.“ Tagebücher 1933 bis 1942, hg. v. Eric Vold, München 2011, S. 157–160.
[3] Raimund Wolfert: Eine jüdische Freundin, die sie umgebracht haben, lambdanachrichten.at, https://www.lambdanachrichten.at/ln108.pdf, Zugriff 15. August 2015.
[4] Maier: „Das Leben“ (wie Anm. 2).

erinnert an einen Menschen, der das Exil nicht überlebt hat

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