Exil in London: Die Flüchtlingsfamilie Marx

Zu den bekanntesten politischen Flüchtlingen des 19. Jahrhunderts gehört Karl Marx. Er war nicht nur Theoretiker der Revolution, sondern beteiligte sich immer wieder an Unternehmungen, die die Arbeiterschaft zu einem revolutionären Bewusstsein erziehen sollten. Schon im Vormärz zwang ihn dies zur Flucht aus Preußen und zu einem Leben im belgischen und französischen Exil. Nach der Revolution von 1848, während der er als Journalist in Köln gewirkt hatte, ging er für den Rest seines Lebens ins Exil nach London. Auch dort verbrachte er seine Zeit keineswegs nur im Lesesaal der British Library, sondern widmete sich für mehrere Jahre in aktiver politischer Tätigkeit der Internationalen Arbeiterassoziation, die als Erste Internationale in die Geschichte der Arbeiterbewegung einging.

Großbritannien war damals noch stolz auf seine freiheitliche Tradition, die sich unter anderem in einem großzügigen Asylrecht äußerte. Zwar schränkte ein Gesetz dieses 1848 kurzzeitig ein, doch es fand nicht in einem einzigen Fall Anwendung und wurde schon 1850 wieder aufgehoben. Anschließend verhinderte bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein kein Gesetz die Ankunft und den Aufenthalt von Flüchtlingen in Großbritannien[1], auch wenn der Druck des Auslands auf die britische Regierung zunahm, politische Exilanten stärker zu überwachen oder auszuweisen. Die breiteste öffentliche Diskussion um das Asylrecht gab es 1858, als die französische Regierung nach dem teilweise in London vorbereiteten Attentat Felice Orsinis auf Napoleon III. ein schärferes Vorgehen gegen die politischen Flüchtlinge auf der Insel forderte. Zwar ließ der britische Premierminister Palmerston eine entsprechende Gesetzesvorlage ausarbeiten, er handelte sich damit aber einen Proteststurm ein, der zum Sturz seiner Regierung führte.[2]

Die Exilgemeinde in Großbritannien und insbesondere in der Metropole London zeigte aufgrund dieser Offenheit des Gastlandes ein buntes Gesicht: Revolutionäre verschiedenster Nationalität und aller Couleur, darunter intellektuelle Köpfe ebenso wie Planer terroristischer Attentate, bevölkerten die Hauptstadt, gestürzte Potentaten lebten dort ebenso wie Umstürzler. So war Großbritannien nach 1871 gleichermaßen Zufluchtsort des französischen Ex-Kaisers Napoleon III. wie von Pariser Kommunarden, denen es gelungen war, dem Gemetzel der Regierungstruppen im Mai 1871 zu entrinnen.

Die englische Liberalität hatte aber ihre Schattenseiten. Während der irischen Hungersnot der 1840er Jahre trug ein liberaler Dogmatismus zumindest zeitweilig dazu bei, die Krise zu verschärfen. Hunderttausende sahen keine andere Wahl als auszuwandern, um dem Hungertod zu entgehen – viele fanden Aufnahme in den USA. Für politische Flüchtlinge in Großbritannien bedeutete die liberale englische Haltung, dass sie im Land leben, aber keinerlei Unterstützung erwarten konnten. Der zur Beobachtung politischer Aktivitäten nach London entsandte preußische Polizeirat Wilhelm Stieber berichtete 1851 – sicher nicht ganz unvoreingenommen – nach Berlin: „Unter den italienischen, ungarischen, polnischen und französischen Flüchtlingen sind einzelne reiche Leute; die meisten deutschen Flüchtlinge aber entbehren aller Fähigkeit, sich selbst eine Existenz zu verschaffen und befinden sich in den kläglichsten Umständen.“[3]

Die politischen Köpfe selbst mochten sich über ihre oft elenden Lebensumstände damit hinwegtrösten, dass sie sich als Märtyrer einer guten Sache fühlten, deren Opferbereitschaft dereinst vielleicht Bewunderung oder Anerkennung im eigenen Land finden würde. Doch auch ihre Familien hatten die Konsequenzen der politischen Aktivitäten zu tragen. Dies galt auch im Fall von Karl Marx. Bei seiner Übersiedlung nach London waren seine Frau Jenny und er Eltern von drei Kindern, von denen zwei im belgischen und eines im französischen Exil geboren waren. Jenny war hochschwanger – der bald nach der Ankunft in London geborene Sohn Heinrich starb aber bereits 1850, die 1851 geborene Tochter Franziska ein Jahr nach ihrer Geburt. Auch der 1847 in Belgien geborene Edgar starb bereits 1855; erst die im selben Jahr geborene Tochter Eleanor erlebte wie ihre beiden 1844 und 1845 geborenen Schwestern Jenny und Laura das Erwachsenenalter.

Angesichts der hohen Kindersterblichkeit, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch herrschte, lässt sich das Schicksal der Kinder von Jenny und Karl Marx natürlich nicht eindeutig auf die Lebensumstände einer Flüchtlingsfamilie zurückführen. Dennoch verschärften die Todesfälle den emotionalen Druck, der auf den Flüchtlingen lastete. Die Familie lebte meist in äußerst beengten Verhältnissen – ein preußischer Polizeispitzel, dem ein Besuch bei der Familie Marx gelungen war, berichtete in zeittypischer Diktion von einem „Zigeunerleben“, ein anderer Gast beschrieb einen verstaubten Wohnraum mit einem großen Tisch,

„auf diesem liegen seine Manuskripte, Bücher, Zeitungen, dann die Spielereien der Kinder; das Fetzenwerk des Nähzeugs der Frau, daneben einige Teetassen mit abgebrochenen Rändern, schmutzige Löffel, Messer, Gabeln, Leuchter, Tintenfass, Trinkgläser, holländische Tonpfeifen, Tabakasche“.[4]

Die Familie war am eigenen Elend nicht ganz unschuldig. Marx suchte trotz Geldnot nach außen einen respektablen Lebensstil aufrechtzuerhalten, den er nicht zuletzt seiner aus Adelskreisen stammenden Frau bieten wollte. Doch gerade deren Besitztümer wanderten immer wieder zum Pfandleiher. Auch die Verunsicherung durch die polizeiliche Bespitzelung prägte den Umgang mit dem Hausrat. Jenny berichtete einem Freund über die Zeit nach der Revolution von 1848/49:

„Sie wissen, daß wir von allem nichts für uns übrigbehalten, ich kam nach Frankfurt, um mein Silber zu versetzen, das Letzte, was wir hatten; in Köln ließ ich meine Möbel verkaufen, weil ich Gefahr lief, Wäsche und alles mit Beschlag belegt zu sehen.“[5]

Im selben Brief berichtete sie weiter über ihr Flüchtlingsdasein in London:

„Ich werden Ihnen nur Einen Tag aus diesem Leben schildern, so wie er war, und Sie werden sehen, daß vielleicht wenig Flüchtlinge ähnliches durchgemacht haben. Da die Ammen hier unerschwinglich sind, entschloß ich mich, trotz beständiger schrecklicher Schmerzen in der Brust und im Rücken, mein Kind selbst zu nähren. […] So saß ich eines Tages da, als plötzlich unsre Hauswirtin, der wir im Lauf des Winters über 250 Reichstaler gezahlt, und mit der wir kontraktlich übereingekommen waren, das spätere Geld nicht ihr, sondern ihrem Landlord auszuzahlen, der sie früher hatte pfänden lassen, eintrat und den Kontrakt leugnete, die 5£, die wir ihr noch schuldeten, forderte, und als wir sie nicht gleich hatten […], traten zwei Pfänder ins Haus, legten all meine kleine Habe mit Beschlag, Betten, Wäsche, Kleider, alles, selbst die Wiege meines armen Kindes, die beßren Spielsachen der Mädchen, die in heißen Tränen dastanden. In 2 Stunden drohten sie alles zu nehmen – ich lag dann auf der flachen Erde mit meinen frierenden Kindern, meiner wehen Brust.“[6]

Nur die finanzielle Unterstützung, die Friedrich Engels der Familie zukommen ließ, sicherte dieser immer wieder ein Auskommen. Es ist eine der netten Ironien der Geschichte, dass das kapitalismuskritische Werk von Karl Marx auf diese Weise aus seinen Börsengewinnen finanziert wurde. Eine bittere Wendung war dagegen, dass eben dieses Werk im Folgejahrhundert in seiner staatlichen Umsetzung in vielen Teilen der Welt selbst wieder zum Anlass für politische Verfolgung und neue Flüchtlingsschicksale werden sollte.

[1] Bernard Porter: The Refugee Question in Mid-Victorian Britain, Cambridge u.a. 1979; Andreas Fahrmeir: Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789–1870, New York u.a. 2000.
[2] Porter, Refugee Question, S. 170–199; Margot Finn: After Chartism. Class and Nation in English Radical Politics, 1848–1874, Cambridge u.a. 1993, S. 180–187.
[3] Zit. nach: Julius H. Schoeps: Agenten, Spitzel, Flüchtlinge: Wilhelm Stieber und die demokratische Emigration in London. In: Horst Schallenberger/Helmut Schrey (Hrsg.): Im Gegenstrom. Wuppertal 1977, S. 89.
[4] Zit. nach: Francis Wheen: Karl Marx, München 2001, S. 206 u. 205.
[5] Jenny Marx an Joseph Weydemeyer, 20. Mai 1850, zit. nach: MEW, Bd. 27, S. 608–610.
[6] Ebd.

Historiker mit Arbeitsschwerpunkt "Britische Geschichte"

Kommentare sind geschlossen.