Nur zwei Tage nach dem Erlass des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ am 7. April 1933 schrieb der um die Jahrhundertwende vom Judentum zum Protestantismus konvertierte Bankier Georg Solmssen an seinen Kollegen Franz Urbig einen bemerkenswerten Brief, in dem er die mangelnde Solidarität seiner Kollegen angesichts des Verfolgungsdrucks der Nationalsozialisten beklagte und hellsichtig die Vertreibung jüdischer Mitglieder aus den Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen und Banken vorhersagte:
„Lieber Herr Urbig,
die Ausstoßung der Juden aus dem Staatsdienst, die nunmehr durch Gesetz vollzogen ist, drängt die Frage auf, welche weiteren Folgen sich an diese, auch von dem gebildeten Teile des Volkes gleichsam als selbstverständlich hingenommenen Maßnahmen für die private Wirtschaft knüpfen werden. Ich fürchte, wir stehen erst am Anfange einer Entwicklung, welche zielbewußt, nach wohlangelegtem Plane auf wirtschaftliche und moralische Vernichtung aller in Deutschland lebenden Angehörigen der jüdischen Rasse, und zwar völlig unterschiedslos, gerichtet ist. Die völlige Passivität der nicht zur nationalsozialistischen Partei gehörigen Klassen, der Mangel jeden Solidaritätsgefühls, der auf Seite aller derer zu Tage tritt, die bisher in den fraglichen Berufen mit jüdischen Kollegen Schulter an Schulter gearbeitet haben, der immer deutlicher werdende Drang, aus dem Freiwerden von Posten selbst Nutzen zu ziehen und das Totschweigen der Schmach und des Schadens, die unheilbar allen denen zugefügt werden, die, obgleich schuldlos, von heute auf morgen die Grundlagen ihrer Ehre und Existenz vernichtet sehen – alles dieses zeigt eine so hoffnungslose Lage, daß es verfehlt wäre, den Dingen nicht ohne jeden Beschönigungs-Versuch in’s Gesicht zu sehen.
Jedenfalls haben die Betroffenen, da sie scheinbar von Allen, die ihnen beruflich nahe standen, so gut wie verlassen werden, ein Recht, an sich selbst zu denken und sich nicht länger durch Rücksichten auf das Unternehmen, dem sie ihr Leben gewidmet hatten, in ihren Handlungen bestimmen zu lassen, es sei denn, daß dieses Unternehmen ihnen in gleicher Weise die Treue hält, wie es solches von ihnen erwartet. Auch in unserem Kollegenkreise ist die Frage der Solidarität des Kollegiums erörtert worden. Mein Eindruck war, daß dieser Gedanke, vielleicht in Folge der nicht homogenen Zusammensetzung des Vorstandes auf sehr lauen Widerhall stieß und daß, wenn man sich selbst entschlösse, ihn zu verwirklichen, solche Aktion mehr in Form einer Geste, als zwecks Leistung äußersten Widerstands erfolgen und daher bald in sich zusammenfallen würde. […] Ich habe aber das Gefühl, daß, wiewohl man mich als Jemanden zu betrachten scheint, dessen Thätigkeit als Aktivum gewertet wird und den man vielleicht als Verkörperer einer nunmehr 70jährigen Tradition [der Vater von Georg Solmssen war bereits 1863 in das Vorgängerinstitut eingetreten, PB] achtet, auch ich fallen gelassen werden würde, sobald von außen in maßgeblicher Weise meine Einbeziehung in die ‚Säuberungs-Aktion‘ verlangt wird.
Ich muß baldmöglichst Klarheit darüber erhalten, was werden soll und lehne ab, zu warten, bis man mir den Stuhl vor die Thür setzt, um inzwischen ein geduldetes Dasein als Gezeichneter zu führen. Es handelt sich um mein und der Meinigen Schicksal und ich bin zu stolz, seinen Gang irgend einem elenden Zufall zu überlassen. Wenn ich doch gehen soll, dann will ich mir die Freiheit des Handelns in der Wahl des Zeitpunkts und der Form bewahren, nicht aber selbst vertraglich gebunden sein, während die Gegenseite sich vorbehält, vertragliche und moralische Bindungen zu lösen, sobald sie einem dahingehenden Druck ausgesetzt wird. Hierbei verstehe ich unter Lösung der Bindungen viel weniger die materiellen Folgen, als die innere Wirkung des Hinausdrängens aus einer Thätigkeit, die den Lebensinhalt bildet und zu deren Ausübung man sich körperlich fähig und geistig berufen fühlt.
[…] Die Äußerungen des Herrn Dr. [Hjalmar] Schacht in unserer gemeinsamen Unterhaltung mit ihm ließen erkennen, daß er eine Änderung in der Zusammensetzung unseres Vorstandes für erforderlich hält, aber der Meinung ist, daß dieselbe nach und nach erfolgen solle. Das würde bedeuten, daß der ungewisse Schwebezustand so lange andauern soll, bis es bequem ist, eine vielleicht bereits beschlossene Umbildung durchzuführen.
Ich möchte nicht Objekt einer solchen Politik werden und bitte Sie daher, in der Ihnen gut scheinenden, meinen Interessen entsprechenden Form, festzustellen, welche Absichten bei den maßgebenden Stellen betreffs meiner Person bestehen.“[1]
Als der 1896 geborene Georg Solmssen diesen Brief schrieb, war er bereits seit über dreißig Jahren für die Deutsche Bank bzw. die Disconto-Gesellschaft, die 1929 mit der Deutschen Bank fusionierte, tätig. 1904 war Solmssen zum Direktor der Disconto-Gesellschaft aufgestiegen, 1911 trat er wie sein Vater Adolph Salomonsohn in den Kreis der Inhaber der konservativen Berliner Großbank ein. Georg Solmssen war kein religiöser Mensch und sein 1900 vollzogener Übertritt vom Judentum zum Protestantismus war in erster Linie ein Akt bewusster Assimilation, den er zudem mit der Änderung seines Nachnamens von Salomonsohn zu Solmssen unterstrich. Solmssen zeigte sich Zeit seines Lebens nationalkonservativ und verkündete beispielsweise einmal während der Weimarer Republik, die Farben Schwarz-Weiß-Rot, also die Farben des Kaiserreichs, nicht diejenigen der Weimarer Republik, stünden für die Zukunft Deutschlands. Allerdings kritisierte er auch das Prunkhafte des Deutschen Kaiserreichs. Den wirtschaftlichen Problemen der Weimarer Republik glaubte er wie viele konservative Unternehmer durch eine Politik des „Gürtelengerschnallens“ begegnen zu können:
„Wir werden uns hoch hungern müssen und, wie schon so manches Mal in der Vergangenheit, werden die zähen Märker und Ostpreussen wieder diejenigen sein, denen die Sache alles und das eigene Wohl nichts ist. Bis jetzt hat in der Geschichte immer nur die Idee gesiegt, die aber noch nie dort emporgesprosst ist, wo es allen wohl erging.“[2]
Solcherart Liebe für die sprichwörtliche preußische Disziplin, die in dem konkreten Beispiel freilich kaum ihn selbst getroffen hätte, zeigte er auch in seiner Unternehmensführung, die zwar streng und organisiert, aber auch verbindlich und zuverlässig war.
Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten war Georg Solmssen ein allgemein anerkannter Bankfachmann und angesehener Bürger des Deutschen Reiches. Umso schockierter war er, als er sich plötzlich an den gesellschaftlichen Rand gedrängt sah, wie nicht nur sein berühmter Brief belegt. Viele Banken reagierten auf die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler mit vorauseilendem Gehorsam und begannen, jüdische Vorstandsmitglieder und Aufsichtsräte zu entlassen. Vor dem Hintergrund der Bankenkrise 1931 war die nationalsozialistische Propaganda gegen das „jüdische Finanzkapital“ immer lauter geworden, weshalb sich die Banken veranlasst sahen, jedes Missfallen zu vermeiden. Auch in der Deutschen Bank wurde Anfang April 1933 die Entlassung der jüdischen Vorstände und Aufsichtsratsmitglieder diskutiert, was den Hintergrund von Solmssens Brief und Enttäuschung darstellte. Die jüdischen Vorstandsmitglieder Oscar Wassermann, der bis 1933 Vorstandssprecher war, und Theodor Frank mussten die Bank verlassen, wobei letztere sich alle Mühe gab, die wahren Hintergründe der Personalien zu verschleiern. Georg Solmssen konnte, wohl weil er zum Protestantismus übergetreten war, vorerst im Vorstand bleiben und kämpfte um sein Vorstandsamt – jedoch vergeblich. Im Mai 1934 trat er aus dem Vorstand zurück und wechselte in den Aufsichtsrat:
„Die neuerdings immer stärker hervortretende, keinerlei Widerspruch findende Tendenz unterschiedsloser bürgerlicher Diffamierung und wirtschaftlicher Vernichtung aller sogenannter Nichtarier verwundet mich seelisch zu tief, als daß ich noch die innere Ruhe aufzubringen vermöchte, um der einem Mitgliede des Vorstandes der Bank obliegenden Verantwortung freudig und in dem für eine gedeihliche Thätigkeit erforderlichen Umfange gerecht werden zu können.“[3]
Mit dem Wechsel in den Aufsichtsrat war Solmssen zunächst in den Hintergrund getreten, und da er nicht mehr mit dem Tagesgeschäft betraut war, verlegte er seinen Lebensmittelpunkt zunehmend in die Schweiz. Dennoch blieb er im deutschen Wirtschaftsleben aktiv, führte 1936 sogar Verhandlungen auf hoher Ebene in der Schweiz. Doch der Verfolgungsdruck ließ zu keiner Zeit nach. Ebenfalls 1936 versuchte der Nationalsozialist Kurt Schmitt, der 1933–1935 Reichswirtschaftsminister war, Solmssen aus den Aufsichtsrat der AEG zu verdrängen. Möglicherweise war die Unterstützung des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht entscheidend dafür, dass Solmssen das Amt noch bis 1938 verteidigen konnte. In diesem Jahr wurde Solmssen allerdings nicht nur aus dem Aufsichtsrat der AEG entlassen, sondern auch der Deutschen Bank, die sein Mandat nicht mehr verlängerte. Auch seine übrigen Mandate musste er nun aufgeben.
Nicht nur beruflich wurde Solmssen aus seinen Ämtern verbannt, auch seine Berliner Wohnung wurde Anfang 1938 zwangsenteignet, um Platz für die von Albert Speer entworfene „Ruhmeshalle des Deutschen Volkes“ zu schaffen. Da ihm zugleich das Visum entzogen wurde, musste er seinen deutschen Wohnsitz aufgeben und vollständig in die Schweiz emigrieren. Zur Freigabe seines Vermögens wurden ihm 300.000 RM abverlangt, hinzu kam eine „Reichsfluchtsteuer“ in Höhe von 730.000 RM sowie 70.000 RM „Judenvermögenssteuerabgabe“. Anfang 1940 wurde zudem die Überweisung der Pension von der deutschen Devisenstelle blockiert. Wie er es im April 1933 vorhergesehen hatte, war Georg Solmssen aus seinen Ämtern und aus Deutschland verdrängt worden. 1952 schrieb er über diese Erfahrung in einem Aktenvermerk:
„Wohl haben manche Deutsche sich bemüht, den Verfolgten beizustehen und abgelehnt, sich an ihrer Ausplünderung zu bereichern oder – jedoch dieses nur sehr selten – die durch ihre Verfolgung frei gewordenen Stellungen zu ergattern. Die grosse Mehrzahl des Volkes beteiligte sich mindestens passiv durch Duldung der Geschehnisse, indem sie sich hinter angeblicher Unkenntnis der sich grossen Teils vor ihren Augen abspielenden Vorgänge verschanzte. Es war ein trauriges Schauspiel, wahrzunehmen, wie sich, zumal intellektuelle und wirtschaftliche Kreise beeilten, nichtarische berufliche, gesellige und verwandtschaftliche Bindungen, auch wenn diese seit Dezennien die Lebensgrundlage der gegenseitigen Beziehungen gebildet hatten, von heute auf morgen zu lösen oder zu verleugnen.“[4]
[1] Georg Solmssen an Franz Urbig, 9. April 1933, in: Harold James/Martin L. Müller (Hrsg.), Georg Solmssen – ein deutscher Bankier. Briefe aus einem halben Jahrhundert 1900-1956, München 2012, S. 356-358. Zur Biographie Solmssens vgl. das biographische Porträt von Harold James am Beginn des Bandes.
[2] Georg Solmssen an Johann Heinrich von Stein, 5. Februar 1920, in: ebenda, S. 140.
[3] Georg Solmssen an Franz Urig, 22. Mai 1934, in: ebenda, S. 410.
[4] Aktenvermerk Georg Solmssens, 7. Oktober 1952, in: ebenda, S. 509.