Gerade in der deutschen Musikwissenschaft haben die Themen Emigration und Remigration seit geraumer Zeit Konjunktur. Man denke stellvertretend nur an Großprojekte wie die seit 1993 im Konzerthaus Berlin stattfindende Gesprächskonzertreihe »Verfolgung und Wiederentdeckung« des Fördervereins zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke musica reanimata,[1] das seit 2005 online erscheinende Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM) an der Universität Hamburg[2] oder die Forschungsstelle »Exil und Nachkriegskultur« samt DFG-Projekt »Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit« an der UdK Berlin.[3] In den vergangenen Jahren wurde eine Vielzahl wissenschaftlicher Tagungen veranstaltet und Texte veröffentlicht. Sie behandeln die ganze Bandbreite hiesiger Musikproduktion von Avantgarde und Film bis Jazz und Schlager. Die Gesamtbibliographie der dort verarbeiteten Literatur und Quellen, auf welche man auf der Website des LexM zugreifen kann, erlaubt einen ebenso instruktiven wie aktuellen Überblick.
Die Verfolgung nach 1933 etwa aus religiösen, ethnischen, politischen oder sexuellen Gründen hat im Bereich der Musik nachhaltig gewütet. Und man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man konstatiert, dass sich viele Bereiche der deutschen Musikkultur wie etwa der Film oder das populäre Musiktheater von diesem selbst erzwungenen ›Braindrain‹, d. h. der Vertreibung von Intelligenz und Kompetenz, bis heute nicht erholt haben, so substanziell war dieser. Von der Inhumanität der erzwungenen Flucht und den vielfach tragischen Einzelschicksalen zerstörter Existenzen ganz zu schweigen. Viele Musikerinnen und Musiker wurde jedoch nicht mal das harte Los der Flucht gewährt. Sie starben in schockierend großer Zahl in den deutschen Konzentrationslagern wie Theresienstadt und Auschwitz, umgebracht von ihren eigenen Mitbürgern. Wie die jüngere Forschung an vielen Beispielen gezeigt hat, war dafür nach 1945 die sogenannte Entnazifizierung im Bereich der Musik und Musikwissenschaft besonders erfolg- und folgenlos.
In meiner Forschungsarbeit seit 2007 bei Albrecht Riethmüller an der Freien Universität Berlin im SFB 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste habe ich mich vor allem mit zwei Einzelfällen beschäftigt, die als Kinder jüdischer Eltern beide unmittelbar vom Thema Nationalsozialismus und Flucht betroffen waren: der Wiener Georg Kreisler (*1922, † 2011) und der Berliner André Previn (*1929).[4] Beide flohen mit ihren Familien 1938, beide gelangten zu Verwandten nach Los Angeles, beide wurden amerikanische Staatsbürger, beide dienten in der amerikanischen Armee – Kreisler sogar noch während des Zweiten Weltkriegs. Beiden war es vergönnt, sich trotz der traumatischen Erfahrung von Vertreibung und Flucht unter Lebensgefahr in frühen Jahren zu bedeutenden Künstlern zu entwickeln, denen ein langes, ausgesprochen produktives Leben vergönnt war.
Kreisler tat sich insbesondere als Autor und Performer von Kabarettliedern hervor. Er verfasste aber auch Prosa und Lyrik, schrieb zwei Dutzend Bühnenwerke und instrumentale Kunstmusik. Sein Ein-Personen-Musical Heute Abend: Lola Blau (1971) gehört zu den meistgespielten Werken populären Musiktheaters im deutschsprachigen Raum.
Previn gewann vier Oscars, veröffentlichte den ersten Millionseller des Jazz, hatte Musicals an Broadway und West End, stand an der Spitze der Billboardcharts, war in den 1970er bis 1990er Jahren einer der führenden Dirigenten der Welt und komponierte eine der meistgespielten zeitgenössischen Opern, A Streetcar Named Desire (1998) nach Tennessee Williams.
Man könnte sagen: Es lief dann doch noch ganz gut für beide. Die Erfahrung der Flucht ließ sich jedoch nie los.
Kreisler kehrte 1955 nach Österreich zurück. Seine gesamte künstlerische Laufbahn sollte er sich an dem abarbeiten, was er erlebt hat. Heute Abend: Lola Blau steht stellvertretend hierfür. Die Hauptfigur wird von den Nationalsozialisten in die Flucht in die USA getrieben, scheitert dort, scheitert aber auch in der Remigration, da die Daheimgebliebenen – allzumal die meist allenfalls symbolisch entnazifizierten Nachkriegsösterreicher und -deutschen – wenig für Rückkehrer übrig hatten. Das ist ein wichtiger Punkt, der auch in der heutigen Flüchtlingsdebatte überraschend wenig im Blickfeld steht. 2007 veranstalteten wir im Konzerthaus Berlin eine Tagung mit Kreisler als Gast. In der Diskussion stand eine junge Sängerin auf und fragte, warum er immer über diese ›alten Themen‹ schreibe. Damit könne heute doch keiner mehr etwas anfangen. Ein Lied über Merkel oder so, dass wäre vielleicht mal etwas. In erstaunlicher Gelassenheit antwortete Kreisler und sagte, dass dies eben die Fragen seien, die ihn bewegen – fast 70 Jahre nach seiner Flucht und mehr als 50 Jahre nach seiner Rückkehr.
Previn seinerseits besuchte erst Ende des 1960er Jahre erstmals wieder die Stätte seiner Vertreibung. Er kam für ein Dirigentenengagement nach Berlin. Hiernach arbeitete er aber oft in Deutschland. Künstlerisch verhielt er sich genau umgekehrt zu Kreisler. Sein extrem umfangreiches Schaffen ignoriert das Thema Flucht und Vertreibung, seine Bücher und Interviews sind gleichfalls außerordentlich sparsam an Aussagen hierzu. In seiner Familie hat es tiefe Spuren hinterlassen. Seine Schwester starb später jung in Israel, wohin sie aus dem amerikanischen Exil weiter gezogen war in Reaktion auf die Erfahrung des Nationalsozialismus. Sein Vater, ein erfolgreicher deutscher Jurist, litt wohl sehr darunter, dass seine außerordentlichen Qualifikationen im Exil praktisch wertlos waren. Aber kaum ein Wort von Previn zu sich selbst und seinen Gefühlen. Wenn, dann zieht er sich meist auf amüsante Anekdoten zurück. Ob sein auffallend unstetes Berufs- und Privatleben einzig den Anforderungen seiner vielen unterschiedlichen musikalischen Tätigkeitsfelder und Engagements geschuldet war oder auch den Erfahrungen der Kindheit, wer vermag das schon zu sagen. Die Rastlosigkeit als Eigenart seiner Vita ist jedenfalls unübersehbar, ebenso seine Distanz zu dem Thema.
Vergleicht man Kreisler und Previn, sieht man, wie unterschiedlich Menschen mit dem Thema Flucht umgehen, von Lebensaufgabe bis Verdrängung. Spurlos geht es an niemanden vorbei, selbst wenn es danach eigentlich ziemlich gut weiter läuft.
Anmerkungen:
[1] https://www.musica-reanimata.de/de/0050.rueckblick.html.
[2] https://www.lexm.uni-hamburg.de/.
[3] https://www.udk-berlin.de/sites/musikwissenschaft/content/forschungsstelle_exil_und_nachkriegskultur/index_ger.html.
[4] Vgl. allg. zu Georg Kreisler Hans-Juergen Fink/Michael Seufert: Georg Kreisler gibt es gar nicht. Die Biographie, München 2005; Michael Custodis/Albrecht Riethmüller (Hrsg.): Georg Kreisler. Grenzgänger, Freiburg 2009. Vgl. allg. zu André Previn Frédéric Döhl: André Previn. Musikalische Vielseitigkeit und ästhetische Erfahrung, Stuttgart 2012. Vgl. zum Thema Immigration in diesen beiden Fällen Frédéric Döhl: André Previn, bzw. Frédéric Döhl: Georg Franz Kreisler, beides in: Transatlantischer Blick/Transatlantic Perspectives. Europe in the Eyes of European Immigrants to the United States, 1930-1980, hrsg. von German Historical Institute Washington, 2012, https://www.transatlanticperspectives.org/entry.php?rec=131 bzw. https://www.transatlanticperspectives.org/entry.php?rec=49, sowie Frédéric Döhl: André Previn, bzw. Frédéric Döhl: Georg Kreisler, beides in: https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002641 bzw. https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002618.