Gedanken zum Buch „Die Filiale der Hölle auf Erden, Schriften aus der Emigration“1 und persönliche Gedanken, Notizen meinerseits geprägt durch die Verbundenheit zu Roths (und Stefan Zweigs) Büchern, Briefen, Worten, Notizen und meiner eigenen Familiengeschichte.
Eine unheimliche Ausdruckskraft, Gedankengänge, die sich an Worte binden und erst beim Lesen sich entfalten, innwendig und unauslöschbar.
„Joseph Roths politische Schriften aus der Emigration sind in diesem Buch zum ersten Male gesammelt herausgegeben. Sie sollen Zeugnis sein von Joseph Roths hartnäckigem und intensiven, aber leider – wie für viele andere auch – vergeblichen Kampf gegen die Nationalsozialisten.“2
Joseph Roth wurde 1894 im galizischen Brody bei Lemberg (Lwiw) geboren und starb 1939 im Pariser Exil an den Folgen seiner schweren Alkoholsucht.
Er war zeitlebens ein Flüchtender, nicht nur tatsächlich – aufgrund des Nationalsozialismus und der daraus resultierenden Bedrohung seines Lebens und das seiner Nahestehenden. Eine Bedrohung die durch die Ermordung seiner Frau Friedl Roth schlimme Wirklichkeit wurde, die sich fernab von ihren Ehemann seit 1930 in psychiatrischer Pflege in Wien (ihrer Heimat) befand. Nach dem Anschluss Österreichs an das Grossdeutsche Reich wurde sie Opfer eines Euthanasie-Programmes und im Juli 1940 in Hartheim bei Linz ermordet. Nein, er flüchtete auch aus sich heraus, oder eher in sich hinein, in einen geschützten Bereich, weg von existenziellen Nöten, weg von geistigen, wirklichen Grenzen. Er, der sich nicht nur in der Zeit seiner Flucht vor dem NS-Regime heimatlos fühlte, fand vor allem, so scheint es, Heimat in sich und in seinen Worten.
Roth, seit 1933 als Auslandskorrespondent für die Frankfurter Zeitung in Paris tätig3, setzt sich von Anfang an mit dem Schrecken des Nationalsozialismus und seiner Rolle als Jude, als Mensch an sich, der Menschlichkeit auseinander, – er fühlte die ständige Bedrohung und seine Ohnmacht, die er gerade in den Briefen an seinen engen jüdischen Freund und Schriftstellerkollegen Stefan Zweig zum Ausdruck brachte:
„Was das Jüdische betrifft: so bin ich mit Ihnen d’accord, dass man nicht den Anschein erwecken darf, man sei gerade nur um die Juden besorgt und sonst nicht.“4
Es waren sein freier Geist, seine Klugheit, später auch grosse Existenznöte, die ihm halfen, Realitäten zu erkennen und die Zeichen der Zeit 1933 richtig zu deuten. Er wusste, dass Buchhändler und Verleger des großen deutschen Reiches und deren politischen Freunde künftig jüdische Literatur ablehnen würden. Er ahnte, dass man rigoros gegen alle vorgehen würde, dass man niemand schonen würde, der auch nur mit ‚den Verstoßenen‘ sympathisiert.
Zeilen an Stefan Zweig wie „Es gibt keinen Kompromiss mit diesen Leuten. Passen Sie auf! Ich rate Ihnen!“5 verraten den scharfen Blick und seine Sorgen, die nie von Egoismus getragen waren.
Das Gefühl, vorweggegriffene Geschichte und Realität aneinandergereiht zu erkennen, bewegte Roth zutiefst. Wie sich vor ihm und vielen anderen der Abgrund auftat und dieser auch exakt zu benennen war, aber nur wenige sich daran zu stören schienen, konnten die Zeichen, das Vorgetragene, das Erlebte als Abgrund erkennen (oder wollten sie erkennen!) und nicht als den Lichtblick der Geschichte, als der er ihnen angepriesen wurden.
Die meisten Zeitgenossen um Roth schienen ihm blind, stumm zu sein: Wie erstarrt oder in einem seltsamen Taumel, ergriffen von treibenden Zukunftsparolen oder erblindet von Schönmalereien geschickter Demagogen. Ähnlich – so schreibt er – dem Zustand manisch-depressiver Menschen, ergriffen von einer Euphorie, die wie ein vernebelter Rausch ist, hervorgerufen von ungesunden Substanzen, Schlachtrufen, bösartigen, unmenschlichen Drahtziehern, Machthunger und reflexionsunfähigen Geistern. Alles dies mische sich zu einem großen Klumpen Wahnsinns, der die Geschichte vorantreibe während der Erkennende diese bereits vorweg nehmen könne.
Sinn entsteht nach Roth so nicht durch Sinnvolles. Sinn werde vorweggenommen, vorgeschrieben von einzelnen Hirnen und dann geschickt konstruiert durch die Masse hindurch, irgendwann so scheint es fast, ein Selbstläufer. Geschichten – und dieses Wort ist zu schön für die geschaffenen Tatsachen – , werden erzählt, erlogen durch Bilder, Reden, Texte, durch Propaganda, aus Inhalten herausgerissen und verfremdet. Wort und Bild werden Mittel zum Zweck, werden Konstrukt. Vorweggenommene ‚Tatsachen‘, als wären sie schon seit Menschengedenken Realität gewesen, um sie ganz bewusst zu eben solcher werden zu lassen.
„Man muss es erkennen und offen aussprechen: Das geistige Europa kapituliert. Es kapituliert aus Schwäche, aus Trägheit, aus Gleichgültigkeit, aus Gedankenlosigkeit, (es wird Aufgabe der Zukunft sein, die Gründe dieser schändlichen Kapitulation genau zu erforschen).“6
Wie aktuell erscheinen uns Sätze, Gedanken Joseph Roths angesichts der derzeitigen Informationen, Meldungen über unseren, den allgemeinen Umgang mit Flüchtlingen. Sind wir gute Menschen, nur weil wir mitfühlen? Die Flüchtenden willkommen heißen? Oder müsste nicht jeder von uns, der mitdenkt, mitfühlt, auf die Straße gehen und lauthals Forderungen stellen? Helfen? Ist in manchen Situationen das Passive schon Mithelfer des sogenannten ‚Bösen‘? Diese Fragen müssen wir uns alle stellen.
Das Hadern an den Gegebenheiten, das tiefe Gefühl für das Geschehen auch über den eigenen Tellerrand hinaus und der doch stets messerscharfe, akkurate Verstand, das Überlegen der Gründe und nein, – nicht einfach gemachte Verurteilung, das macht einen Joseph Roth für mich aus. Sein dagegen Anschreiben, sein gesellschaftliches Aufbäumen, seine charakterstarke politische Gradlinigkeit bis zur Selbstzerstörung. Feinfühligkeit auch im Umgang mit Unerfreulichem, Reflexion mit den Gründen selbst im Angesicht des so offen gezeigten Hasses der sich gegen ihn, wie gegen so viele andere richtete.
„Die Filiale der Hölle auf Erden“ nannte Joseph Roth das Dritte Reich. Wie er heute mit dem Umgang mit Flüchtenden, mit Tränengasangriffen auf Kinder und den Zuständen in den Auffanglagern ins Gericht gehen würde, man kann es erahnen.
- Helmut Peschina (Hrsg.): „Die Filiale auf Erden, Schriften aus der Emigration“. Mit einem Vorwort versehen von H. Peschina, Köln 2003 u. ö. [↩]
- zitiert nach, Peschina: Filiale, Vorwort, S. 21 [↩]
- Roth lernte 1929 in Berlin Andrea Manga Bell kennen und lieben. Er fühlte sich jedoch weiter und zeitlebens für seine bereits erkrankte Frau Friedl zuständig und unterstütze deren Eltern auch finanziell. Mit Andrea Manga Bell und ihren Kindern verließ er 1933 Berlin, um fortan in Paris zu leben. [↩]
- Brief an Stefan Zweig, Paris, 26. März 1933, zitiert nach, Peschina: Filiale, S. 25. [↩]
- Brief an Stefan Zweig, Paris, 6. April 1933, zitiert nach, Peschina: Filiale, S. 27. [↩]
- Cahiers Juifs, Sept/Nov 1933, zitiert nach, Peschina: Filiale, S. 44. [↩]