Mit dem Surfbrett über die Ostsee. Flucht aus der DDR

Nach neuen Forschungen zur Fluchtbewegung über die Ostsee starben zwischen dem 14. August 1961 und dem 9. November 1989 mindestens 189[1] Menschen bei ihrem Versuch, über die Ostsee aus der DDR zu fliehen. In den 28 Jahren nach dem Mauerbau gelang zudem ca. 594[2] DDR-Bürgern der sogenannte Grenzdurchbruch über das Baltische Meer.

Mit dem Bau der Mauer 1961 und dem Anbau von Selbstschussanlagen 1969, schränkte der SED-Staat das elementare Recht auf Freizügigkeit total ein. Die innerdeutsche Grenze war dadurch undurchlässig geworden. Für Menschen wie Karsten Klünder und Dirk Deckert, die der autoritären Reglementierung und staatlichen Repression entkommen wollten, stellte der Fluchtweg über die durchlässigere Seegrenze die „einzig reelle Chance“[3] auf einen erfolgreichen Fluchtversuch dar.[4] Die beiden Ost-Berliner hatten sich 1983 in einem Segelverein am Werbellinsee kennengelernt und begannen den Versuch zu planen, mit dem Surfbrett über die Ostsee zu fliehen. Dafür bauten sie den größten Teil der Ausrüstung, wie die westdeutschen „Funboards“, selbst zusammen.[5] Ausgestattet mit Neopren- und Trockenanzügen, Füßlingen, Kopfbedeckungen, Handschuhen, einer wasserdichten Uhr und einem Kompass, setzten sie sich in den frühen Morgenstunden des 25. Novembers 1986 der Gefahr aus, in der 6° Celsius kalten Ostsee zu erfrieren und surften von Rügen über Hiddensee nach Møn.

„Jetzt geht’s um Leben oder Tod“[6], so beschreibt Karsten Klünder seine Gedanken beim Anblick der kräftigen Brandung.

 

Nach mehr als vierstündigem Surfen in meterhohen Wellenbergen erreichte er bei Klintholm die dänische Ostseeküste. Dort traf er auf dänische Fischer und den Hafenmeister Erik Jensen, der ihm Herberge, Kleidung und Nahrung gab.[7] Selbst für die dänischen Fischer waren die Herbststürme so stark, dass sie nicht wagten, auf hoher See zu arbeiten. Die Frage, wo Dirk Deckert abhandengekommen war, klärte sich erst im westdeutschen Aufnahmelager Gießen, wo sich beide Freunde wiedertrafen. Nachdem er seinen Kompass verloren hatte, riss er sich beim Aufprall auf das eiskalte Wasser ein Loch in sein Schutzanzug und musste umkehren. Das veranlasste ihn zur Rückkehr auf das Festland, wo er seine Ausrüstung reparierte. Da ihm wegen Beihilfe zur Flucht Karsten Klünders jahrelange Haft und staatliche Repression drohte, entschloss er sich einen erneuten Fluchtversuch zu unternehmen. Am Vormittag des 26. Novembers entdeckte der dänische Kapitain Larsen Find den erschöpften Surfer Dirk Deckert, der sich ca. 33 km südlich der dänischen Küste befand.[8]

Neben diesem erfolgreichen Fluchtversuch beschreibt der dänische Hafenmeister Erik Jensen auch die Geschichte der gescheiterten, oftmals tödlichen Fluchtversuche:

„Wenn unsere Fischer zwischen Møn und Rügen das Schleppnetz hochholten, lagen manchmal Leichen zwischen den Fischen. Ich kann mich an zwölf Tote erinnern. Wir brachten sie hier an Land und übergaben sie dem Gerichtsmedizinischen Institut in Kopenhagen. Dort wurden sie untersucht und als unbekannte Personen begraben. Wir wußten nicht, woher sie kamen. Ostdeutschland hat uns keine Vermißtenmeldungen geschickt. Aber es wurden nirgendwo so viele Leichen aufgefischt wie zwischen Rügen und Møn.“[9]

Daneben fanden die dänischen Fischer in jedem Herbst Wracks von zerschellten ostdeutschen Booten.

Der Freiheitsdrang und der Wille durch Selbstverwirklichung im Leben Fortschreiten zu können, ließ viele Flüchtlinge zwischen 1961 und 1989 den waghalsigen Weg über die unsichtbare Ostseegrenze wählen. Die meisten dieser Art scheiterten. Weitere erfolgreiche Fluchtversuche können in dem Buch Über die Ostsee in die Freiheit von Christine und Bodo Müller nachgelesen werden.

 

[1] Die Angabe basiert auf Recherchen in den Akten der Grenzbrigade Küste (DDR) und statistischen Auswertungen des Bundesgrenzschutzes (BRD), einzusehen in Christine Müller/Bodo Müller: Über die Ostsee in die Freiheit, Bielefeld 2003, hier S. 52. Wie beide Autoren schreiben, ist die Dunkelziffer der Fluchtopfer wahrscheinlich deutlich höher.
[2] Diese Zahl errechnet sich aus den Angaben des BGS seit 1970. Die erfolgreichen Fluchtversuche vor 1970 sind hier nicht aufgeführt.
[3] Müller/Müller: Über die Ostsee (wie Anm. 1), S. 123.
[4] Wie despotisch die Grenzsicherung der Ostseeküste betrieben wurde, kann in Kapitel 1 „Die unsichtbare Mauer“, in ebd. nachgelesen werden.
[5] Fall 16:  Mit dem Surfbrett durch den Herbststurm, in: ebd., S. 186 f.
[6] Ebd., S. 187 f.
[7] Vgl. ebd., S. 188 f.
[8] ebd., S. 190 f.
[9] Der dänische Hafenmeister Erik Jensen über das Auffinden der ostdeutschen Bootswracks, in: ebd., S. 226.

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