„Zukunftsbetrachtung“. Felice Schragenheim malt sich als 16jährige ihr Leben als Geflüchtete aus

Die Berliner Schülerin und Dichterin Felice Schragenheim[1] (*1922) musste im November 1938 das Gymnasium verlassen und unternahm daraufhin verschiedene Auswanderungsversuche. Im Mai 1938 verfasste Schragenheim das Gedicht Zukunftsbetrachtung[2], das zwischen ihren Karriereträumen und der vermuteten Realität im Exil changiert und diese Träume als „Selbstbetrug“ charakterisiert, der die Gegenwart vergessen machen soll.

Zukunftsbetrachtung

 

Ich träumte so meine Karriere,

von Autos, von Sonne, von Schönheit und Geld,

ich denke an ferne, sehr blaue Meere,

an Journalistik und große Welt.

Anhand des Atlas in fernen Ländern

darf man ja reisen, ich tue es gern

und weiß, mein Leben wird sich wohl ändern,

und irgendwo steht auch mein kleiner Stern.

Ja, wenn ich nur erst draußen wäre –

dann werde ich nur weiter träumen,

dann wird ich sie machen, diese Karriere,

doch nur beim Kochen und Zimmeraufräumen.

Es ist gut, daß uns ein Hoffen gegeben,

ein Selbstbetrug, durch den man vergißt,

daß unser Gastspiel in diesem Leben

eine tragische Komödie ist.

 

Schragenheims Auswanderungsversuche scheiterten, sie musste im NS-Deutschland bleiben. Von Oktober 1941 bis Oktober 1942 war sie Zwangsarbeiterin in der Berliner Flaschenschlussfabrik C. Sommerfeldt & Co, dann tauchte sie bei ihrer Geliebten Lilly Wust unter. 1944 wurde sie verhaftet und zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz deportiert; vermutlich verstarb sie auf dem Todesmarsch vom KZ Groß Rosen nach Bergen-Belsen. 1948 wurde sie für tot erklärt.

Durch den 1994 erschienen Roman Aimée und Jaguar von Erica Fischer und den gleichnamigen Film aus dem Jahr 1998 wurde Schragenheims Lebensgeschichte einem breiten Publikum bekannt. An ihre Deportation erinnern ein Stolperstein in der Berliner Friedrichshaller Straße 23 und ein Gedenkstein in Bergen-Belsen.

 

[1] Zu Schragenheim s. Erica Fischer: Das kurze Leben der Felice Schragenheim, Berlin 1922 – Bergen-Belsen 1945, München 2002.
[2] Dok.38: Felice Schragenheim reflektiert im Mai 1938 ihre Berufsaussichten in der Emigration, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 2: Deutsches Reich, 1938 – August 1939, München 2009, S. 159. Gedicht zitiert nach ebd.

erinnert an einen Menschen, der das Exil nicht überlebt hat