Die jugoslawischen Kriege sind seit 1999 vorüber. Doch gerade in jenen daraus hervorgegangenen Einzelstaaten, die (noch) keine EU-Mitglieder geworden sind, führen die wirtschaftliche Situation, die hohe Arbeitslosigkeit und verbreitete (politische) Korruption nach wie vor zu prekären Lebensumständen ohne Perspektiven auf Verbesserung. Auch heute fliehen deshalb noch Menschen aus diesen Ländern. Sie werden im medialen Diskurs (wie viele andere auch) als ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ bezeichnet1 und von ‚echten’, das meint unmittelbar an Leib und Leben bedrohten und daher Asyl beanspruchenden Flüchtenden unterschieden. Dieser Unterscheidung ging der Soziologe Armin Nassehi kürzlich auf den Grund:
“Der Begriff meint: Es sind ja schlicht subjektive, nachgerade egoistische Gründe, die jemanden aus wirtschaftlichen Gründen flüchten lassen, während politische Gründe eine objektive Ordnung spiegeln, die durchaus positiv zu wenden sind: Wer aus politischen Gründen zu uns kommt, bestätigt unsere zivilisatorische Überlegenheit, wer aus wirtschaftlichen Erwägungen kommt, wird ein Konkurrent, auch noch einer, der staatliche Zuwendungen für Wohnung, Nahrung und Telekommunikation erhält, während wir uns dies selbst erarbeiten müssen.”2
Das folgende Beispiel zeigt, dass ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ nicht freiwillig auf staatliche Beihilfen ihres Empfängerlandes zurückgreifen. Viele Menschen, die ihr Herkunftsland aus ökonomischen Gründen verlassen, verweigern staatliche Zuwendungen oder die Migration in ein Land, in dem sie ohne Arbeitserlaubnis auf diese angewiesen wären. Hier erzähle ich die Geschichte zweier Menschen, die nur unter der Bedingung emigrierten, dass sie in ihrem Ankunftsland ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können – zu würdigeren Bedingungen als dort, wo sie herkommen.
Ivan und Mihajla3 werden in den Jahren 1986 und 1988 in Zentralserbien geboren und wachsen in bürgerlichen Familien auf. Ivans Familie ist sprachaffin und arbeitet in diesem Bereich im Umfeld von ‚Josip Broz‘, wie Ivan Tito nennt. Als Jugendliche erleben Ivan und Mihajla das NATO-Bombardement Serbiens mit. Bei einem Spaziergang, der am immer noch als Ruine im Zentrum Belgrads stehenden Generalstabsgebäude vorbeiführt, erzählt Ivan, dass er die Bedrohlichkeit der damaligen Situation nicht verstanden habe und den Bombenalarm aufregend fand. Der Spaziergang geht weiter, vorbei an der Stelle, wo 2003 der serbische Premierminister und Reformer Zoran Đinđić von seinen politischen Gegnern erschossen wurde.
Ivan und Mihajla lernen einander als Teenager kennen und werden ein Paar. Beide ziehen nach Niš im Süden Serbiens, um dort zu studieren: Ivan schließt sein Bachelor-Studium in Anglistik ab und möchte das Land aufgrund der wirtschaftlichen Situation und der massiven Korruption verlassen.4 Er erhält eine Aufenthaltsberechtigung in Österreich und studiert am Institut für Anglistik der Universität Wien. Mihajla studiert weiter in Niš Psychologie. Sie ist eine außerordentlich gute Studentin und erhält mehrere Stipendien. Dennoch reicht das Geld nicht aus, um aus der 35-Quadratmeter-Wohnung auszuziehen, die sie mit ihrer Cousine teilt. Nach einem Jahr in Wien kommt Ivan nach Serbien zurück, weil er in Wien keine Arbeit gefunden hat, mit der er sein Studium weiter finanzieren könnte. Mihajla hat ihr Studium abgeschlossen. Sie ziehen gemeinsam nach Belgrad, um eine ihrer Ausbildung angemessene Arbeit zu finden, und heiraten. Ivan arbeitet in der Hauptstadt als Stagehand, Mihajla wird Junior-Teamleiterin in der Personalabteilung eines großen Unternehmens. Das gemeinsame Einkommen, das in Westeuropa nicht für das Auskommen einer einzigen Person ausreichen würde, finanziert gerade eine Ein-Zimmer-Wohnung und die Lebenshaltungskosten.
Einen dauerhaften Weg in ein EU-Land gibt es für das gut ausgebildete Paar nicht, auch nicht nach Österreich, wo sie ein soziales Umfeld haben. Anforderung für die Einwanderung nach Österreich wäre ein Aufenthaltstitel, der an Asylfähige vergeben, ansonsten aber nur unter der Bedingung erteilt wird, dass die Einwandernden einen Mangelberuf ausüben oder „hochqualifiziert“ sind. Anforderung für eine solche Niederlassungsberechtigung, die in Österreich als „Rot-Weiß-Rot Karte“ bezeichnet wird, ist außerdem ein “verbindliches Arbeitsplatzangebot”.5 Obwohl Ivan und Mihajla als „Studienabsolventinnnen und -absolventen“ zum Antrag auf eine „Rot-Weiß-Rot Karte“ berechtigt sind, ist es auch für Hochqualifizierte, so sie aus ex-jugoslawischen Ländern kommen, schwierig, Arbeitgebende zu finden, die einen solchen Antrag unterstützen. Sie nehmen deshalb an der Greencard Lottery teil. Sie erlaubt jährlich bis zu 50.000 Menschen, dauerhaft in die USA einzuwandern: „the stated purpose is to ‘enhance’ and ‘promote’ diversity“.6 Das macht deutlich, dass die USA eine grundlegend andere Einwanderungsstrategie verfolgen und eine wesentlich positivere Haltung gegenüber ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ haben als die Europäischen Länder.
Ivan und Mihajla ‚gewinnen‘ in der Lotterie. Am 3. September 2015 steigt ein junges Ehepaar aus Europa in ein Flugzeug nach Washington, DC. Fortsetzung folgt?
- Kürzlich von Vertretern der ungarischen Regierung: Großteil der Asylanten laut Ungarn Wirtschaftsflüchtlinge, Kronenzeitung, 5.9.2015 https://www.krone.at/Schlagzeilen/Grossteil_der_Asylanten_laut_Ungarn_Wirtschaftsfluechtlinge-Schlagzeilen-Story-470723 (Zugriff: 8.9.2015) [↩]
- Armin Nassehi: Der Hass auf den „Wirtschaftsflüchtling“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.8.2015, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/hass-auf-wirtschaftsfluechtlinge-in-deutschland-13776696.html (Zugriff: 8.9.2015) [↩]
- Hier wird die Geschichte von einem mit der Verfasserin befreundeten Paar erzählt, das anonymisiert wurde und mit dieser Veröffentlichung einverstanden ist. [↩]
- Ejup Ganić, der vormalige Präsident Bosnien-Herzegovinas, fasste die Gründe der politischen Korruption in Serbien in seinem Vortrag „Bosnia and Herzegovina Today – What is Wrong with the Dayton Peace Accord?“ (Wien, 9.9.2015) mit einer provokanten Formulierung zusammen, der Ivan zustimmt: „Serbs are good people, but they have always subscribed to bad leadership.“ Im selben Vortrag sprach Ganić von der „Diaspora” der ex-jugoslawischen Völker, deren Ursache die politische und ökonomische Situation in ihren Herkunftsländern sei. [↩]
- Vgl. Migrationsplattform der Österreichischen Bundesregierung, https://www.migration.gv.at/ (Zugriff: 9.9.2015) [↩]
- Andowah A. Newton: Injecting Diversity into U.S. Immigration Policy: The Diversity Visa Program and the Missing Discourse on its Impact on African Immigration to the United States, in: Cornell International Law Journal, Vol. 38, Iss. 3 (2005), S. 1050-1082; hier S. 1055; https://scholarship.law.cornell.edu/cilj/vol38/iss3/18 (Zugriff: 9.9.2015) [↩]