„Aus Kindern wurden Briefe“. Die Kindertransporte 1938–1940

Fast 18.000 jüdische Kinder flohen mit den sogenannten Kindertransporten aus Deutschland und den besetzen Gebieten (Österreich, Tschechien) in ein europäisches Land, in die USA, nach Kanada, Australien oder nach Palästina.[1] In Großbritannien wurde mit 10.000 Kindern der weitaus größte Teil von ihnen untergebracht. Der erste Transport verließ Berlin am 1. Dezember 1938, der letzte die Niederlande am 14. Mai 1940.[2] In den Gastländern wurden die Kinder in Gastfamilien und Kinderheimen untergebracht, in Palästina in der Regel in Kibbuzim.[3]

Unmittelbar nach der Reichspogromnacht lockerte die Britische Regierung die Einwanderungsbestimmungen für minderjährige Flüchtlinge, die nun mit einem Urlaubsvisum ins Land kommen konnten. Zudem konnten nun Listenanträge und mussten keine Einzelanträge gestellt werden, um die Aus und -einwanderung zu beschleunigen. Im Gegenzug mussten Privatpersonen oder Organisationen die Finanzierung der Unterbringung, Schulbildung und möglichen Re-Migration übernehmen, denn man ging davon aus, dass die Kinder zu ihren Familien würden zurückkehren können. Dazu musste die Summe von 50 Pfund Sterling garantiert werden.

Eine später „Refugee Children’s Movement“ (RCM) genannte Vereinigung entsandte Repräsentanten nach Deutschland, Österreich und Tschechien, um den Transport gemeinsam mit jüdischen Organisationen vorzubereiten. Bevorzugt wurden Waisen, Kinder, deren Eltern bereits im Konzentrationslager waren, sowie Kinder aus verarmten Familien.[4]

So erhielt die Wiener Schülerin Vera Selzer (* 1925) im Juli vermutlich auch deshalb einen Platz im Kindertransport, weil ihre Mutter psychisch krank und der Vater arbeitslos war. Zudem konnte sie bei ihrem Onkel in London unterkommen, der – zusätzlich zu, Vater Chaim Selzer – einen Antrag beim Movement for the Care of Children from Germany stellte. Ihr Vater bat in einem Schreiben an das „Movement“ inständig:

„Ich bitte Sie, sich des Falles anzunehmen und das Nötige zu veranlassen bzw. mir mitzuteilen, was ich unternehmen soll, damit ich das Kind in menschenwürdigen Verhältnissen unterbringen kann.“[5]

Die Kinder und Jugendlichen waren bis zu 17 Jahre alt, sie reisten ohne Begleitung, die älteren nahmen sich auf der Reise der kleineren Kinder an.[6] Die Nachricht zum Aufbruch kam oft plötzlich:

„Anfang Dezember wurden die Kinder und Jugendlichen in verschiedenen deutschen Städten verständigt, dass sie sich für einen Transport nach England schnellstens bereit machen sollten. Es waren Kinder aus Wien (etwa 600), Berlin (200), Hamburg (200) und verschiedenen kleineren Städten. Jedes Kind solle nur, soviel es selbst tragen konnte, mitnehmen.“[7]

Liesl Munden, geb. Heilbronner (* 1924 in Düsseldorf) berichtete 2010 über ihre Abreise:

„Meine Eltern haben es mir so leicht gemacht wie möglich. Es muss furchtbar viel für sie gewesen sein. Aber ich kann mich erinnern, dass ich noch ein bisschen half mit dem Einpacken des Koffers, und wir konnten nur einen Koffer mitnehmen. Das wisst Ihr wahrscheinlich. Und da hat meine Mutter das getan und gesagt: Dies und jenes. Und dann habe ich die Liste bekommen, die ich noch habe. Ziemlich viel adventure spirit, als ich zum Zug gebracht wurde. Es war ein Nachmittag und da war ein Gewitter. Und ich weiß nicht, ob es regnete, aber es donnerte und blitzte. Und so bin ich abgefahren, mit einem Gewitter.“[8]

Die Historikerin Marion Kaplan beschreibt, wie ambivalent die Erfahrung war, mit einem Kindertransport die Eltern und das Zuhause zurückzulassen. Dies hing sicherlich auch vom Alter der Kinder und ihren Erfahrungen mit der Verfolgung durch das NS-Regime ab.[9] So berichtet Ruth Klüger in ihren Memoiren von ihrer Enttäuschung darüber, als ihre Mutter Sieben- oder Achtjährige nicht nach Palästina ausreisen lassen wollte und so die letzte Chance auf eine Flucht vergab:

„Mir klopfte das Herz, denn ich wäre liebend gern weggefahren, auch wenn es ein Verrat an ihr gewesen wäre. […] Auf dem Heimweg kämpfte ich mit meiner Enttäuschung, die ich ja nicht ausdrücken konnte, ohne sie zu verletzen. Ich glaube, das habe ich ihr nie verziehen.“[10]

Die zum Zeitpunkt ihrer Flucht 15-jährige Lore Robinson, geb. Michel (*1924 in Köln), die mit ihren Eltern und ihrem Bruder am Salierring 38 gewohnt hatte, erinnert sich 2010 an ihre Flucht und die Motive der Eltern, sich von den Kindern zu trennen:

„Ich war ganz allein. Aber da war ein kleines Baby von ungefähr drei Monaten in unserem Zug, das hatte die Mutter in einer Carrycot [Babytragetasche] eingesetzt, mit ein paar Flaschen Milch und ein paar Nappies [Windeln], das fuhr auch nach England alleine. Das fand ich so couragiert, dass eine Frau ihr Kind in Sicherheit schickt. Es war schwer genug für unsere Mütter und Väter, die wussten alle nicht, ob sie uns wiedersehen. Aber sie wussten, dass es eine Chance gibt für uns vielleicht. Der Kindertransport hat uns ja alle gerettet, nicht? Tausende von uns!“[11]

Gerade für die Jugendlichen bedeutete die Ankunft in Großbritannien häufig einen zusätzlichen Bruch, da sie – anders als geplant – nicht immer ihre Schulbildung weiterführen konnten. Ernest Kolman (* 1926 als Ernst Kohlmann in Wesel) lebte nach seiner Ankunft in Großbritannien zuerst in einem Heim und dann in verschiedenen Pflegefamilien in Bedford. Seine geplante Ausbildung an einer Kunstakademie konnte er nicht fortsetzen. Ein herber Schlag für den 14-ährigen:

„Da habe ich mich hingesetzt […] und habe mit mir gesprochen. Habe mir gesagt: Was wird aus dir? Es ist schwer, mit sich selber zu sprechen, wenn man ehrlich sein will. Es war nicht in der Nähe einer hoffnungsvollen Antwort, die ich mir gegeben habe. Es war keiner da, keiner war interessiert – wenn ich unter einen Bus gefallen wäre, wäre keiner da zum Trauern. Ich glaube, die Einsamkeit war das Schlimmste. Ich denke immer, Einsamkeit ist schlimmer als Krankheit. […] Wir Kinder, jeder hat seine eigene Geschichte, wir mussten einfach überleben. Wir hatten ja keine Wahl. Es ging irgendwie, und man hat schnell gelernt, wenn man etwas erreichen will, muss man es selber machen. Keiner tut das für dich. Das ist eine wichtige Lehre.“[12]

Laut Marion Kaplan gelang 82% der Kinder bis 15 Jahre und 83% der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren die Flucht aus Deutschland.[13] Die überwiegende Mehrheit der mit Kindertransporten ausgereisten Kinder und Jugendlichen sah ihre Eltern und ihre Geschwister nie wieder. Beispielhaft sei hier die Familie des in Köln geborene Hans Walter genannt, der nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist:

„[My parents] were taken to a place, I think it was Cäcilienstraße, where they were assembled and they were told they’re gonna be resettled. And you know all the story, I mean what happened is terrible. Sometimes unbelievable, that the German people were like this, they let Hitler do all this. I never understand it. And nowadays, even nowadays there is antisemitism.

We didn’t realize, what was – I thought, I may see my parents again. We lived, we were treated very well, and you know, it was a nice time for us. Of course we didn’t realize what was going to happen. Only after the war, we realized what happened. That we would never see our families again.“[14]

Eine Rückkehr zu den Familien, wie vor dem Zweiten Weltkrieg angedacht, war damit in den meisten Fällen nicht möglich. Für Kindertransporte aus Nordrhein-Westfalen erzählten Zeitzeugen im Jahr 2010 auch, wie sie ihr Leben in den Gastländern weiterführten.[15]

1989 gründete die 1923 in München geborene Bertha Leverton[16], M.B.E. die Organisation „Reunion of the Kindertransport“. Sie nahm zu weiteren „Kindern“ Kontakt auf und veranstaltete ein Treffen – nach langen Jahren für viele wohl die erste Möglichkeit, sich mit den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend auseinanderzusetzen.[17]

Wie traumatisierend der Kindertransport gewesen ist, machte W. G. Sebald (1944–2001) zum Thema seines 2001 veröffentlichten Romans Austerlitz. Der Ich-Erzähler schildert seine Begegnungen mit Jacques Austerlitz, einem Kunsthistoriker, dem erst als fast 60-Jährigem plötzlich klar wird, dass er als Viereinhalbjähriger mit einem Kindertransport nach Großbritannien war, als er zufällig in einem Buchladen eine Sendung anhört, in der zwei Frauen über ihr Schicksal berichten:

„erst als eine der beiden darauf zu sprechen kam, daß ihr Transport […] schließlich mit dem Fährschiff PRAGUE von Hoek von aus über die Nordsee nach Harwich gegangen sei, wußte ich jenseits jeden Zweifels, daß diese Erinnerungsbruchstücke auch in mein eigenes Leben gehörte. Die Anschriften und Rufnummern am Ende des Programms mir aufzuschreiben, war ich vor Schrecken über die plötzliche Offenbarung außerstand. Ich sah mich nur warten, an einem Kai, in einer lange Zweierreihe von Kindern, von denen die meisten Rucksäcke trugen oder Tornister. Ich sah, wie die mächtigen Quader zu meinen Füßen, den Glimmer im Stein, das graubraune Wasser […] und das rothaarige Mädchen mit dem Schottencape und dem Samtbarett, das sich während der Fahrt durch das dunkle Land um die kleineren Kinder gekümmert hatte in unserem Abteil, dieses Mädchen, von dem ich Jahre später noch, wie ich mich jetzt entsann, träumte.“[18]

Jacques Austerlitz reist wenig später nach Prag, um nach Spuren seiner Mutter zu suchen. Als er der Archivarin Tereza Ambrosová sein Anliegen schildert, gerät er in Panik ob seiner „nicht nur sehr kursorischen, sondern, wie es mir auf einmal schien, geradezu absurden Erklärungen“[19]. Mithilfe der Archivarin findet er das Haus seiner Mutter Agáta Austerlizová und macht ihre ehemalige Nachbarin ausfindig, die ihm die Geschichte seiner Eltern und auch die eigene erzählt.[20] Die Mutter wurde 1942 nach Theresienstadt und 1944 weiter in eines der Vernichtungslager deportiert. Der Vater flieht nach Frankreich, seine Spur verliert sich im Lager Gurs, zu dem sich Austerlitz am Ende des Romans aufmacht – zugleich seine letzte Begegnung mir dem Ich-Erzähler. Die Wiederkehr der Erinnerung ist ambivalent. Zwar erschließt sich das wenig liebevolle Verhalten der Pflegeeltern in Ansätzen, doch Austerlitz‘ Erinnerungsarbeit bleibt letztlich trügerisch:

„In dem hellen Frühlingslicht, das die frisch ausgeschlagenen Lindenblätter durchstrahlte, hätte man meinen können, sagte Austerlitz zu mir, man sei eingetreten in eine Märchenerzählung, die genau wie das Leben selber, älter geworden ist mit der verflossenen Zeit.“[21]

 

Informationen zu den Kindertransporten im Netz
The Kindertransport Association
The Association of Jewish Refugees, Kindertransport
Kindertransporte aus Nordrhein-Westfalen

[1] Das Titelzitat stammt von Elisabeth Bab, zitierte nach Marion Kaplan: Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, Berlin 2003, S. 172. Die Zahlen variieren etwas, hier sind sie ohne die Auswanderung nach Übersee genannt.
[2] United States Holocaust Memorial Museum. “Kindertransport.” Holocaust Encyclopedia. https://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005260. Zugriff 21. August 2015.
[3] Kaplan: Mut, S. 172. Die Berliner Recha Freia organisierte gemeinsam mit der amerikanischen Frauenorganisation „Hadassah“ über die Jugendalijah die Flucht von 3200 Kindern und Jugendlichen, die von der „Hadassah“ auch finanziert wurde.
[4] USHMM, Kindertransport (wie Anm. 2).
[5] Dok.272. Chaim Selzer aus Wien versucht am 14. April 1939, für seine Tochter einen Platz im Kindertransport nach England zu bekommen, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 2, Deutsches Reich 1938 – August 1939, München 2009, S. 734 f. Chaim Selzer (1886–1939) wurde schon im Oktober 1939 nach Buchenwald deportiert und dort noch im selben Jahr ermordet.
[6] USHMM, Kindertransport (wie Anm. 2).
[7] Dok. 213: Jugendliche aus einem Kindertransport berichten über am 25. Dezember 1938 über ihre Aufnahme in Großbritannien, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 2, Deutsches Reich 1938 – August 1939, München 2009, S. 580 ff., hier S. 580.
[8] Die Seite kindertransporte-nrw.eu hat neben Informationen zu den Transporten auch Zeitzeugeninterviews veröffentlicht. Die Interviews wurden 2010 geführt. Zu Mundens Abschied s. Zeitzeugeninterview Liesl Munden, https://kindertransporte-nrw.eu/munden/munden_abschied_1.html, Zugriff: 21. August 2015.
[9] Kaplan: Mut (wie Anm. 1), S. 172 f.
[10] Als 11-jährige wurde Ruth Klüger gemeinsam mit ihrer Mutter zuerst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert, 1945 wurde sie in Groß-Rosen befreit. Ihre Memoiren, aus denen das Zitat stammt, wurden 1992 veröffentlicht, s. Ruth Klüger: Weiter Leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, Zitat S. 62.
[11] Zeitzeugeninterview Lore Robinson, https://kindertransporte-nrw.eu/robinson/robinson_kt_1.html, Zugriff 22. August 2015.
[12] Zeitzeugeninterview Ernest Kolmann, https://kindertransporte-nrw.eu/kolman/kolman_lehrer_1.html, Zugriff 22. August 2015. Kolman machte eine Lehre als Maler und Dekorateur, wurde 1942 Mitglied der Royal Air Force und war nach dem Krieg in Deutschland stationiert, wo er seine Frau Eva kennenlernte. Das Abitur machte er auf einer Abendschule, als seine Kinder schon erwachsen waren. Seit 1988 erzählt er als Zeitzeuge in Weseler Schulen seine Lebensgeschichte.
[13] Kaplan: Mut, S. 173.
[14] Zeitzeugeninterview mit Hans Walter, https://kindertransporte-nrw.eu/walter/walter_eltern_3.html, Zugriff 22. August 2015.
[15] Zu weiteren Zeitzeugnissen s. httpss://en.wikipedia.org/wiki/Kindertransport, Zugriff 22. August 2015.
[16] Zu Bertha Leverton s. https://www.sonntagsblatt-bayern.de/02/02-48-01.12.2002_1038393319-66412.htm?PHPSESSID=21f97adf8e77acc97c9c8b5fc00b4602, Zugriff 22. August 2015.
[17] Leverton gab 1991 das Buch „I Came Alone“ heraus, das 1997 auch auf deutsch erschien: Ich kam allein. Die Rettung von zehntausend jüdischen Kindern, München 1997.
[18] W. G. Sebald: Austerlitz, Frankfurt a. M. 2003, S. 208 f.
[19] Ebd., S. 216.
[20] Ebd., S. 223 ff.
[21] Ebd., S. 415.

erinnert an einen Menschen, der das Exil nicht überlebt hat