„Menschen am Sonntag“. Ein Film wandert aus

Menschen am Sonntag. Ein Film ohne Schauspieler (D 1930, Regie Robert Siodmak) beginnt mit seinen Darstellern: dem Taxifahrer Erwin, der Schallplattenverkäuferin Brigitte, dem Weinhändler Wolfgang, der Filmkomparsin Christl und dem „Mannekin“ Annie. Am Bahnhof Zoo treffen Walter und Christl aufeinander: Immer wieder löst sich die Kamera von den beiden und schweift über den vibrierenden Verkehr, umkreist das Kennenlernen, wie auch Walter Christl umkreist, bis er sie endlich anspricht. Der Episodenfilm springt zwischen Straßenkehrern, einer Autowerkstatt und Tankstelle, Verkehrsteilnehmern und dem sich eben anbahnenden Paar. Für den nächsten Tag, dem titelgebenden Sonntag verabreden sich Christl und Walter für den nächsten Tag „Punkt 10 Uhr am Nikolassee“, der S-Bahn-Haltstelle für den Wannsee.

Tags darauf verschläft Erwins Freundin Annie und die beiden jungen Männer machen sich allein auf den Weg nach Nikolassee, wo Christl mit ihrer besten Freundin Brigitte schon wartet. Nun geht es an den Badestrand. Brigitte hat ihr Grammophon dabei, beim Baden und Picknicken werden die jungen Frauen zu Rivalinnen um Wolfgangs Gunst, der sich schließlich Brigitte zuwendet. Dies und die folgende Liebesszene werden durch Aufnahmen vom Strandband Wannsee unterbrochen. Nach einer gemeinsamen Tretboot fahrt geht es zurück in die Stadt. Der Film schließt mit dem geschäftigen Treiben auf der Straße am folgenden Morgen und dem Satz „4 Millionen warten auf den Sonntag“.

Der Film, gedreht 1929, war ein radikaler Bruch mit der Filmästhethik des Weimarer Stummfilms (Filmstills). Der übertriebenen Gestik des Stummfilms setzte das Kollektiv der Filmemacher eine Ästhetik der „Unmittelbarkeit“ entgegen: keine gestelzten Bewegungen, die Rollen waren mit Laiendarsteller_innen besetzt, die sich möglichst so bewegen sollten, wie sie das in ihrem kamerafreien Alltag taten. Besonders die Kameraführung Eugen Schüfftans, die stark mit Lichtreflexen arbeitete, evozierte und verstärkte den Effekt der „Unmittelbarkeit“.[1] Sein Kameraassistent war Alfred Zinnemann. Das Drehbuch hatte Billie Wilder nach einer Reportage von Kurt Siodmak verfasst, Regie führten Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer, Produzent war Moritz Seelers mit dem „Filmstudio 1929“.

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Die Produktion musste aufgrund von Geldmangel immer wieder unterbrochen werden, der Film war – so Filmhistoriker Karl Prümm – „cinéma pauvre im radikalen Sinn des Wortes. […] Das Filmmaterial war Ausschussware: Kameramann Eugen Schüfftan benutzte überlagerte Agfa-Filme, das die Ufa-Studios nicht mehr anrühren wollten“. Dazu gerieten Robert Siodmak und Wilder ständig aneinander und dennoch gelang ein Film als „offener, kollektiver Text, der viele Interessen und Perspektiven zu erkennen gibt. Das macht den Reichtum und die Lebendigkeit des Films aus.“[2]

Diese Leichtigkeit, das „Versprechen eines Anfangs“[3] machen den Film aus: die vibrierende Stadt, das sich Annähern und wieder Entfernen der Protagonist_innen, die immer anderen Bewegungen des Verkehrs, das Grammophon am Strand. „The weekend’s last breath/A Zeitgeist almost through“ – so besang Paul Smith kürzlich in People on Sunday[4] diese Brüchigkeit und zugleich Offenheit des Films. Es war der letzte Sommer vor der Wirtschaftskrise, vor der Radikalisierung der Politik, die schließlich zur Machtübertragung auf die Nationalsozialisten und zur Flucht Ungezählter führte. Es ist schwer, den Film nicht aus dieser Warte zu sehen – das Verlorene schwingt beim Betrachten immer mit und es schwingt anders mit, als bei vielen Klassikern dieser Zeit. Mit der Migration und Flucht des Filmteams verließ auch das Kunstwerk Menschen am Sonntag Deutschland.

Drehbuchautor Billy Wilder (1906–2002) floh am 28. Januar 1933, dem Tag der „Reichstagsbrandverordnung“ nach Paris, konnte aber bereits 1934 durch die Intervention Joe Mays in die USA reisen. Ab 1936 wurde er bei Paramount zu einem gefragten Drehbuchautor, so schrieb er Bluebird’s Eigth Wife (1938) und Ninotchka (1939). Zu seinen unzähligen Erfolgen als Regisseur gehörten Double Indemnity (1944), Witness for the Prosecution (1958) und Some Like it Hot (1959), er wurde mit insgesamt drei Oscars ausgezeichnet und gilt als einer der wichtigsten Filmregisseure des 20. Jahrhunderts. Ein großer Teil der Familie des in Sucha bei Krakau geborenen Wilder wurde in Auschwitz ermordet.[5]

Romancier Kurt/Curt Siodmak (1902–2000) floh 1933 über die Schweiz, die ihn jedoch nicht dulden wollte, nach England, wo er ebenfalls ausgewiesen wurde und nach Belgien übersiedelte, bis er in London eine Arbeitserlaubnis erhielt. Seinen Besitz hatten die Nationalsozialisten schon 1933 konfisziert. 1937 ging er in die USA, wo er der Anti-Nazi League beitrat und vornehmlich für Horrorfilme Drehbücher und Romane schrieb. Nach dem Erhalt der amerikanischen Staatsbürgerschaft meldete er sich zum „Office of Strategic Service“ und absolvierte eine Ausbildung als Geheimagent. In den 1950er Jahren drehte er selbst Filme, die allerdings wenig erfolgreich waren.[6]

Regisseur Robert Siodmak (1900–1973) floh im April 1933 nach Paris, wo er weiter als Regisseur arbeitete, unter anderem bis zu Ödön von Horváths plötzlichem Tod an einer Verfilmung von Jugend ohne Gott. 1939 ging er in die USA, wo er mit Filmen wie The Spiral Staircase (1945) und Cry of the City (1948) zum Meister des Film noir avancierte. 1951 kehrte Siodmak nach Europa zurück, Mitte der 1950er Jahre ließ er sich in Ascona nieder. In dieser Zeit drehte er eine Adaption von Gerhard Hauptmanns Die Ratten (1955) sowie Nachts, wenn der Teufel kam (1957), in denen er sich mit dem Erbe des Nationalsozialismus auseinandersetzte.[7]

Regisseur Edgar G. Ulmer (1904–1972) war bereits Mitte der 1920er Jahre mit Max Reinhardt in New York und kehrte 1930 in die USA zurück. Dort drehte er 1934 The Black Cat mit Bela Lugosi und Boris Karloff, wurde aber aus privaten Gründen – er hatte dem Neffen des Besitzers der Universal Studios die Frau ausgespannt – in die B Movie-Ecke abgedrängt, bevor er 1946 mit The Strange Woman ein kleines Comeback feierte.[8]

Der Kameramann Eugen Schüfftan (1893–1977) war 1929 der Bekannteste aller Beteiligten. Er war Erfinder eines nach ihm benannten Spiegeltrickverfahrens, da in verschiedenen Lang-Filmen, darunter Metropolis (1925/25), eingesetzt worden war. Menschen am Sonntag war seine erste Kameraarbeit. 1933 emigrierte er nach Frankreich, wo er unter anderem mit Max Ophüls drehte. 1940 in die USA geflohen konnte der dort während des Krieges wegen der Gewerkschaftsbedingungen nicht als Kameramann arbeiten und wandte sich technischer Entwicklung zu. Für The Hustler wurde er 1961 mit dem Oscar ausgezeichnet.[9]

Kameraassistenz Fred Zinnemann (1907–1997) war seit seiner Jugend mit Billy Wilder befreundet, nach einem Kamerastudium in Paris und der Mitarbeit an Menschen am Sonntag ging Zinnemann im Oktober 1929 nach Hollywood und wurde Assistent des österreichischen Regisseurs Berthold Viertel. In den 1930er Jahren dreht er Kurzfilme, seinen Durchbruch hatte 1944 er mit der Adaption von Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz. Im Jahr darauf erfuhrt Zinnemann, dass seine beiden Eltern die Shoah nicht überlebt hatten. Seine Karriere in Hollywood nahm mit High Noon (1952) und dem Oscar für die beste Regie ungeheuer an Fahrt auf. Nach Filmen wie From Here to Eternity (1953), The Nun’s Story (1959) und A Man for All Seasons (1966) gilt er heute wie Billy Wilder als einer der besten Regisseure des 20. Jahrhunderts.[10]

Der Produzent Mori(t)z Seeler (1896–1942) überlebte die Shoah nicht. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten war seine Karriere in Deutschalnd zunächst beendet. Vermutlich 1933 ging er nach Prag und 1935 nach Wien, doch dort fand er keine Arbeit und kehrte nach Berlin zurück, bis 1938 war er Regisseur beim Jüd. Kulturbund Rhein-Ruhr, Verhaftung und Konzentrationslager nach der Reichspogromnacht. 1941 wurde er als Kohlenarbeiter zwangsverpflichtet; wenig später tauchte er in Berlin unter. Carl Zuckmayer versuchte vergebens, Seelers Ausreise aus Deutschland zu erwirken. Die Gestapo verhaftete ihn im Frühjahr 1942 bei einem Fluchtversuch, im August wurde Seele nach Riga deportiert, wo er wahrscheinlich umkam, da sich hier seine Spur verliert.[11]

Die Darstellerin Christl Ehlers (1910–1960) emigrierte 1933 mit ihrem Vater zunächst nach Mallorca und dann 1938 nach London. Sie starb 1960 bei einem Flugzeugabsturz.[12]

Der berühmte Schauspieler und Kabarettist Kurt Gerron (1897–1944), einer der Nebendarsteller, wurde in Auschwitz ermordet[13], die Schauspielerin, Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert verließ Deutschland 1933 und migrierte über Großbritannien in die USA, 1947 Rückkehr nach Europa.[14]

Erwin Plettstößer starb bereits 1931, Brigitte Borchert (1910–2011) und Wolfgang von Waltershausen (1900–1973) blieben in Deutschland, über Annie Schreyer ist mir nichts bekannt.

 

[1] Karl Prümm: „Menschen am Sonntag“. Brüchig wie das Leben, in Tagesspiegel, 15. November 2000, https://www.tagesspiegel.de/kultur/menschen-am-sonntag-bruechig-wie-das-leben/179282.html, Zugriff 22. August 2015.
[2] Ebd.
[3] Claudius Seidel: Das Versprechen eines Anfangs, FAZ, 21. Februar 2010, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/momente-des-deutschen-films-ii-das-versprechen-eines-anfangs-1942570.html, Zugriff 22. August 2015.
[4] Paul Smith and the Intimations: People on Sunday, Contradictions 2015.
[5] Kurzbiographie Billy Wilder: httpss://www.dhm.de/lemo/biografie/billy-wilder, Zugriff: 22. August 2015.
[6] Kurzbiographie Kurt/Curt Siodmak: https://www.filmportal.de/person/kurt-siodmak_daeeac741bda452fb9ba2786e2da1ab3, Zugriff: 22. August 2015.
[7] Neue Deutsche Biographie, Band 24, Berlin 2010, S. 475 f.
[8] httpss://en.wikipedia.org/wiki/Edgar_G._Ulmer; zu. Ulmer s. auch: https://sensesofcinema.com/2003/great-directors/ulmer/
[9] Jacobsen, Wolfgang, „Schüfftan, Eugen“ in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 634–635, https://www.deutsche-biographie.de/ppn12495748X.html, Zugriff: 22. August 2015.
[10] Insgesamt erhielt Fred Zinnemann fünf Oscars und war weiter sechs Mal nominiert, s. httpss://en.wikipedia.org/wiki/The_Nun%27s_Story, Zugriff: 22. August 2015.
[11] Krone-Balcke, Ulrike, „Seeler, Moritz“ in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 147–148, https://www.deutsche-biographie.de/ppn117444480.html, Zugriff: 22. August 2015.
[12] httpss://de.wikipedia.org/wiki/Christina_Ehlers, Zugriff: 22. August 2015.
[13] https://www.filmportal.de/person/kurt-gerron_5e6622d70db24202ac42d6f7641b2714.
[14] https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Personen/gert-valeska.html.

Historikerin, forscht u. a. zu Nationalismus und zur Dekolonisierung Afrikas

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